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Nach allem Vorgetragenen kann die Thatsaehe, dal's sieb
die Schrift des Hochgebildeten von der des weniger Gebildeten
und des Ungebildeten in den meisten Fällen sehr leicht, und in
allen nach eingehender Prüfung, unterscheiden läfst, nicht be¬
fremden. In der That herrscht darüber kaum ein Zweifel.
Bezeichnungen wie „eine ungebildete Handschrift", „eine Kinder¬
hand“, „man sieht schon der Adresse an, dafs der Brief nicht
von einem gebildeten Manne kommt“, „wird wohl ein Bettelbrief
sein“ — und viele ähnliche kritische Äufserungen im täglichen
Leben beweisen, dafs der Gebildete eine gewisse Art von Hand¬
schriften, auch wenn er ein Verächter der Graphologie ist,
psychologisch beurteilt. Er ist dazu, wie aus den obigen Dar¬
legungen hervorgeht, vollkommen berechtigt, pflegt sich aber
keine Rechenschaft darüber zu geben. Ich kenne einen älteren
Herrn, welcher von Graphologie nichts weifs und doch, nur nach
dem Anblick eines Briefes, den er nicht einmal liest, oft auf¬
fallend richtig einige Eigenschaften des ihm unbekannten Ab¬
senders herausfindet, ohne angeben zu können, wie er diese
Divination erwarb. Es verhält sich damit ähnlich wie mit der
Beurteilung des Charakters aus der Gesichtsbildung, dem Mienen¬
spiel, den Gesten, dem Gang, der Kleidung, der Sprechweise.
Bei näherer Betrachtung der Buehstabenformen zeigt sich
deutlich der Unterschied in den graphischen Symptomen der
erworbenen und zugleich die Übereinstimmung in denen der
ursprünglichen Eigenschaften, welche durch Erziehung und Unter¬
richt weder erzeugt, noch unterdrückt worden sind.
Zunächst die runde und die eckige Schrift (vgl. oben S. 8
u. 64). Man kann dieselben Buchstaben rund und eckig schreiben.
Handschriften heifsen, je nachdem Kurven oder Ecken überwiegen,
rund oder eckig. Man kann sogar alle Buchstaben ohne und alle
mit Ecken bilden, z. B. sind die im Pariser Erziehungsinstitut
Sacré- Coeur erlernten
sehr reich an Ecken. Dagegen enthält die folgende (hier geteilte)
Zeile