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übersehen, dafs die gebildeten Frauen im allgemeinen viel weniger
schreiben, als die gebildeten Männer. Aber von den Handschriften
der Männer gilt ebenso, dafs sie um so weniger zu bedeuten
haben, je mehr sie an den kalligraphischen Unterricht erinnern,
um so mehr, je weniger diese Regelmässigkeit hervor tritt; daher
die Bedeutungslosigkeit der Handschriften von Schreibern.
Vom Schreiben gilt in mancher Hinsicht dasselbe wie vom
Mienenspiel.
Kant hat schon bezüglich der Gesichtsbildung die Vielen
befremdliche Bemerkung gemacht (in seiner „ Anthropologie“ 1799
II. A. 5. a), dafs „eine genau abgemessene Regelmäfsigkeit ge¬
meiniglich einen sehr ordinären Menschen, der ohne Geist ist,
anzeige.“ Er sagt: „Das Mittelmafs scheint das Grundmafs und
die Basis der Schönheit, ^aber lange noch nicht die Schönheit
selbst zu sein; weil zu dieser etwas Charakteristisches erfordert
wird.“ Eben dieses gilt von Handschriften. Die tadellos regel-
mäfsigen kalligraphischen (S. 68 oben) sind unschön, weil sie
unbedeutend sind. Auch die sich daran schliefsenden KANTischen
Worte treffen genau zu, wenn man sie von der Physiognomik
und Mimik auf das Schreiben überträgt: „Man kann aber dieses
Charakteristische, auch ohne Schönheit, in einem Gesichte an¬
treffen, worin der Ausdruck ihm doch, obgleich in anderer
(vielleicht moralischer oder ästhetischer) Beziehung, sehr zum
Vorteil spricht; d. i. an einem Gesichte bald hier, bald da, an
Stirn, Käse, Kinn oder Earbe des Haares usw. tadeln, dennoch
aber gestehen, dafs für die Individualität der Person es doch
empfehlender sei, als wenn die Regelmäfsigkeit vollkommen wäre,
weil diese gemeinhin auch Charakterlosigkeit bei sich führt.“
So kann man auch an einer Handschrift allerlei tadeln in
Bezug auf die Form der Schriftzeichen und sie für die Indivi¬
dualität ihres Urhebers doch rühmlicher finden, als wenn sie der
vollkommenen Regelmäfsigkeit recht nahe käme, weil eben diese
mit geistiger Unbedeutendheit zusammenzugehen pflegt, es sei
denn, dafs jemand nicht seine natürliche Handschrift schreibt,
sondern sie absichtlich verstellt, an ihre Stelle eine Art Kalli¬
graphie setzend. Aber diese Verstellung verrät sich geradeso
sicher wie etwa die künstlich angenommene (feierliche, lächelnde,
gespannte) Miene beim Photographiertwerden, indem der
Schreibende hier und da gleichsam aus der Rolle fällt.