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schlossenheit, so weise ich ihn ab, weil iah voraussehe, dafs er
nicht lange die ihm obliegenden Pflichten zu meiner Zufrieden¬
heit wird erfüllen können. Zeigt dagegen ein anderer alle jene
Merkmale nicht in seiner Handschrift, aufserdem nicht das Zeichen
des Eigensinns, der Selbstsucht, der Verschwendungssucht und
der Geheimthuerei, so kommt er in die engere AVahl. Die Wahr¬
scheinlichkeit, dafs jene Fehler hei ihm nicht stark ausgebildet
sind, wird durch den Mangel der ihnen in der Handschrift ent¬
sprechenden Zeichen begründet; ihre Abwesenheit wird aber
dadurch allein noch nicht bewiesen.
Dieses Beispiel aus dem Leben zeigt die grofse, praktische
Wichtigkeit der Handschriftenvergleichung bei Anstellungen. Da
es sich aber hier um die Deutung der Schriftzeichen selbst
handelt, deren Formen individuell verschieden sind und als
fixierte Bewegungen in irgend einer Weise von der Bewegungs¬
und Vorstellungsart des Schreibenden, sowie von seiner Art,, auf
äufsere Eindrücke zu reagieren, und von seinen persönlichen Er¬
fahrungen abhängen müssen, so sollen die verschiedenen Formen
der Buchstaben zuerst nach dieser Richtung betrachtet werden.
Bei der Vergleichung zweier Briefe, über deren Herkunft
nichts weiter bekannt ist, als dafs der eine von einem von der
Feder lebenden Schriftsteller, der andere von einem Tagelöhner
geschrieben wurde, wird es kaum jemals zweifelhaft sein,
welcher dem einen und welcher dem anderen zugehört. Beide
.Briefsteller leben von ihrer Hände Arbeit, beide sind fleifsig,
ehrlich, ordnungsliebend, sparsam, gesund und stark. Sie sind
in der Kindheit gleichzeitig nebeneinander von demselben Lehrer
im Schreiben unterrichtet worden und haben anfangs dessen
Handschrift gleichmäfsig nachgeahmt. Aber dann trennten sich
ihre Wege, und die Verschiedenheit ihrer Handschriften springt
jetzt sogleich in die Augen. Man sieht ihnen an, dafs der eine
sehr schnell schreibt, ohne die Aufmerksamkeit speziell auf die
Schriftzüge zu richten, der andere dagegen langsam, mit Bedacht,
mit grofser Anspannung seiner ausschliefslich auf die Bewegungen
der Federspitze gerichteten Aufmerksamkeit die Buchstaben einzeln
zeichnet und oft zehnmal soviel Zeit braucht, um eine Zeile zu
Papier zu bringen, als der Journalist, auf dessen Manuskript der
Bote aus der Druckerei vor der Thür wartet. Die beiden fol¬
genden Proben zeigen diesen Unterschied besonders deutlich.