Volltext: Zur Psychologie des Schreibens: Mit besonderer Rücksicht auf individuelle Verschiedenheiten der Handschriften

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eines gescliriebenen Wortes, ja schon eines einzelnen Buchstabens, 
teils bewufst, teils unbewufst, dafs man sich bereits eines Erfolges 
rühmen darf, wenn man nur einige wenige psychische Vorgänge 
und Zustände in einen sicheren Zusammenhang mit gewissen 
Eigenschaften der Schrift, also der Schreibbewegung, gebracht hat. 
Indessen wird es doch nützlich sein, den allgemeinen Stand¬ 
punkt, von dem ich ausgegangen bin, zu kennzeichnen, weil er 
bei dem Versuche, sich auf diesem schwierigen Gebiete zu 
orientieren, sich mir stets bewährt hat, heuristisch brauchbar ist 
und den Thatsachen unmittelbar entstammt. 
Ich sagte mir bei den Bemühungen, zwischen hervorstechenden 
psychischen Eigenschaften eines mir bekannten Menschen und 
Eigentümlichkeiten seiner Handschrift einen physiologischen oder 
psychologischen Zusammenhang aufzufinden, dreierlei: 
Erstens mufs derselbe Charakterzug (oder sonst ein psycho¬ 
logisches Symptom) bei den verschiedenartigsten Individuen 
jedesmal vorhanden sein, wenn sie alle dasselbe handschriftliche 
Merkmal, z. B. dieselbe unwillkürliche Mitbewegung, zeigen und 
jede Verstellung und Täuschung ausgeschlossen ist. Dann ist der 
Zufall auch ausgeschlossen, eine Thatsache ermittelt. 
Zweitens mufs ein Mensch, der bei der willkürlichen Be¬ 
wegung des Schreibens irgendwelche Besonderheit zeigt, auch 
bei anderen willkürlichen Bewegungen im praktischen Leben 
eine Besonderheit seiner durch dieselben unbewufst und bewufst 
sich äufsernden Denkweise und Gemütsart kundthun. Denn 
ganz frei von ungewollten Mitbewegungen pflegt keine Willkür¬ 
bewegung zu sein. Wenn also jemand, ohne sich zu beherrschen, 
ja ohne an eine Verstellung, welche schliefslich mit jedem Akte 
starker Selbstbeherrschung verbunden ist, zu denken, einen ver¬ 
traulichen Brief in einer charakteristischèn Handschrift schreibt, 
dann werden unbewufste charakteristische Mitbewegungen auch 
bei anderen Bewegungen (Handlungen, Mienen, Gesten, Reden) 
als Bethätigungen unter der Schwelle des Bewufstseins befind¬ 
licher geistiger Vorgänge und Zustände zu erwarten sein. Der 
Schreibende selbst weifs aber nichts von den Besonderheiten seines 
Manuskripts, von Zuthaten und Mängeln, die er nicht wollte und 
doch nur mit grofsem Zwang, viel Zeitaufwand und nachdem er 
gehörig darauf aufmerksam gemacht worden, vermeiden kann, 
ohne indessen gegen Rückfälle geschützt zu sein.
	        
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