Volltext: Zur Psychologie des Schreibens: Mit besonderer Rücksicht auf individuelle Verschiedenheiten der Handschriften

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meinen 'Wahrnehmungen, ebenso wie Langenbruch nach den 
seinigen, für ungerechtfertigt erklären mufs — sie beruht auf 
einer subjektiven Überschätzung dieses einen, noch dazu in 
vielen Handschriften gänzlich fehlenden Merkzeichens — so 
lohnt es sich nicht, auf Einzelheiten einzugehen. Nicht der 
isolierte Strich, sondern die Richtung desselben in Bezug auf die 
Zeile und die Richtung der Zeile in Bezug auf den oberen und 
unteren Rand der Schreibfläche ist es, worauf es ankommt. 
Für die Erklärung dieses graphischen Zeichens hat man nun 
geltend gemacht (Michon, Sch wiedland), dafs bei freudiger 
Erregung eine Neigung, die Arme nach oben zu bewegen, über¬ 
haupt emporzustreben („vor Freude zu springen“), vorhanden sei, 
der Traurige dagegen die Arme hängen lasse und der Gebrochene 
in sich zusammensinke. Bei ganz kleinen Kindern, schon bei 
Säuglingen, ist, wie ich anderswo zeigte, das geringste Unbehagen 
an dem Hinabgehen der Mundwinkel, heitere Stimmung an dem 
Hinaufgehen derselben mit Sicherheit zu erkennen. 
Aber diese und noch viele andere mimische Zeichen liefern 
nur eine oberflächliche Analogie. Dafs im allgemeinen der leb¬ 
hafte Optimist seine Schrift aufwärts, der ruhigere Pessimist sie 
abwärts richtet, steht damit in keinem unmittelbaren Zusammen¬ 
hang. Was in der Schrift „aufwärts“ oder „bergan“ heifst, ist 
in Wirklichkeit „vorwärts“ oder „nach vorn“, d. h. „vom Körper 
des Schreibenden fort“, also centrifugal, das „abwärts“ centripetal. 
Nur in dem Falle, dafs man auf vertikal, etwa an einer Wand, 
befestigtes Papier schriebe, würden sich beide Begriffe decken. 
Auf dem horizontalen Schreibtisch kommt aber nur die Be¬ 
wegung der Finger oder der ganzen Hand, mitsamt dem Unter¬ 
arm, nach vom in Betracht. Indessen es gibt eine zwischen 
beiden die Mitte haltende schiefe Ebene: das Pult. Wer an 
diesem zu schreiben gewöhnt ist, kann allerdings beide Ten¬ 
denzen, die nach oben und die nach vorn, zugleich in den 
aufwärts und vorwärts gerichteten Zeilen im buchstäblichen Sinne 
verwirklichen. 
Da die aufsteigende Zeilenrichtung nicht allein eine heitere 
Stimmung, sondern auch eine gewisse Unternehmungslust anzeigt, 
so können beiderlei Bewegungserinnerungsreste aus der Kindheit 
Zusammenwirken, der vom Erheben der Hände in der Freude und
	        
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