Volltext: Zur Psychologie des Schreibens: Mit besonderer Rücksicht auf individuelle Verschiedenheiten der Handschriften

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Inhalte ihrer Briefe die Zeilenrichtung so, dafs sie unwillkürlich 
beim Kondolieren bergab, beim Gratulieren bergauf und in einem 
und demselben Briefe, wenn unerfreuliche Nachrichten besprochen 
werden, abwärts, wenn lebhaft gewünschte Erfolge zur Sprache 
kommen, aufwärts geht. 
Ja sogar innerhalb einer Zeile kann die Richtung derselben 
die Art des Schwankens zwischen Lust und Unlust wiederspiegeln. 
Wenn jemand mit Eifer anfängt zu arbeiten, aber nicht ausdauert 
und bald die Ereude an der Arbeit verliert, so werden die Zeilen 
nicht selten bogenförmig mit aufsteigendem Anfang und ab¬ 
steigendem Ende. Wird dagegen die Arbeit nicht mit Lust und 
Liebe begonnen, nachdem sie aber einmal in Gang gekommen, 
eifrig fortgesetzt, dann kann das Umgekehrte in der Handschrift 
zum Vorschein kommen: bogenförmige Zeilen mit absteigendem 
Anfang und aufsteigendem Ende. Einige Beispiele nannte ich 
S. 27. Herder schrieb auffallenderweise zu Zeiten gerade 
Zeilen mit aufsteigendem Ende, was auf Ausdauer Tom Anfang 
an und Lust an der Arbeit während ihres Fortganges sehliefsen 
läfst. Viele, die am Ende der Zeile eine Teilung des Wortes 
durchaus vermeiden wollen und mit dem Raume nicht auskommen, 
schreiben gerade Zeilen, biegen dieselben aber am Schlüsse 
nach unten um, was auf eine Neigung, möglichst ohne Pausen 
das Nötige zu erledigen und den Wunsch, bald zu Ende zu 
kommen, sehliefsen läfst, wo nicht Unkenntnis der Wortteilungs¬ 
regeln das Motiv abgiebt. 
Wenn in einer und derselben Zeile die einzelnen Wörter, 
und etwa in ihnen auch die Silben, ungleichmäfsig gerichtet sind 
(auch bei konstanter Schriftlage), so entsteht die unregelmäfsig 
wellige Zeile der bald an dem Erfolge ihrer Unternehmung 
Zweifelnden, bald Siegesgewissen, die eben dadurch, dafs sie den 
Leser nicht erkennen lassen, welche Richtung sie definitiv ein- 
schlagen, als diplomatisch veranlagt gelten. Ich kann indessen 
der verbreiteten Ansicht nicht beipflichten, derzufolge diese welligen 
Zeilen diplomatische Gewandtheit verraten und sogar für eine 
vermeintliche Berufshandschrift tüchtigerDiplomaten charakteristisch 
sein sollen. Denn ich finde die sinusoiden Zeilen in vielen Briefen 
ganz und gar nicht nach jener Richtung begabter Personen beiderlei 
Geschlechts ausgeprägt und bei anerkannt fähigen Politikern, 
Diplomaten von Fach, keine Spur davon. Es ist aber sehr wahr-
	        
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