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noch so vieler Menschen und Briefe durchweg bestätigt, sofern
die durch Erziehung und Selbsterziehung nicht unterdrückte
Empfänglichkeit für äufsere Eindrücke jeder Art, die Impressiona-
bilität, die Neigung, durch natürliche Äulserungen, wie durch
Reflexbewegungen auf Gesehenes, Gehörtes, Gefühltes, sogleich
zu reagieren, mit rechtsschräger Schrift zusammengeht, Selbst¬
beherrschung mit Verbergen der Gefühle, gleichviel ob die Er¬
regbarkeit grofs oder klein ist, durch steile Buchstaben sich kund-
giebt und eine Gewohnheit, sich — aus welchen Gründen es auch
sein mag — zu verstellen, andere als die wahren Gefühle zu
äufsern, durch die viel selteneren linksschrägen Schriftzüge sich
verrät.
Viele Thatsachen unterstützen dieses durch die reine Er¬
fahrung gewonnene Ergebnis. Zunächst das Steilerwerden der
Handschrift im Laufe der Jahre bei gefühlvollen, leidenschaft¬
lichen, heftigen, reizbaren, sich leicht ärgernden Menschen, die,
durch unliebsame Erlebnisse bewogen, sich immer mehr beherrschen
lernten. Ich besitze noch an 2000 von meinem Vater an mich
gerichtete Briefe aus den Jahren 1852 bis 1890. Sie sind chrono¬
logisch geordnet und lassen eine von Jahr zu Jahr zunehmende
Steilheit der Grundstriche erkennen. Während nämlich in den
ersten Jahren Neigungswinkel von 37 bis 39° überwiegen, zeigen
die Briefe 1856 vorherrschend 40°, 1866 schon 45° und 1877
meistens 49°, 1886 etwa 50° und im letzten Lebensjahr, dem
achtzigsten, 58°. Die Lebhaftigkeit im Reagieren auf äufsere
Eindrücke, besonders Widersprüche und unerwartete Vorkommnisse,
sowie die Neigung zu zornigen Auslassungen, nahm in der ganzen
Zeit ab durch wohlbewufste Willensthätigkeit und immer erfolg¬
reichere Versuche dem Gefühlsimpuls nicht nachzugeben, nament¬
lich nicht heftig zu werden, bis in den letzten 5 Jahren die
frühere Leidenschaftlichkeit nur noch ganz vereinzelt zum Vor¬
schein kam, ein Beweis, dafs sie nicht erloschen war, sondern
gezügelt wurde.
In einem anderen Falle wurde schon innerhalb weniger
Monate infolge einer Zurückdrängung des Gefühlslebens die
Handschrift auch in den intimsten Briefen der Tochter an die
Mutter immer steiler. Die junge Frau war von ihrem Manne
geschieden worden. Als sich aber nach Jahren herausstellte, dafs
sie nicht entfernt so schuldig war, wie es anfangs schien, waren