Gesichtsvorstellungen.
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Netzhaut, wenn sich die Gegenstände in einer bestimmten, dem jeweiligen
Brechungszustand der optischen Medien entsprechenden Entfernung befinden.
Mittelst der Accommodation, bei welcher die Krystalllinse, namentlich
an ihrer vordem Fläche, stärker gewölbt wird, kann aber das Auge seinen
Brechungszustand innerhalb gewisser Grenzen verändern und auf diese
Weise successiv auf Objecte von verschiedener Entfernung sich einstellen1).
Die Existenz des Netzhautbildes ist die Grundbedingung für die durch
das Sehorgan vermittelte Auffassung der Welt in räumlicher Form. Jeder
einzelne Punkt der Netzhaut empfindet die Stärke und Wellenlänge der
ihn treffenden Lichtschwingungen gemäß den früher aufgestellten Gesetzen
als Intensität und Qualität des Lichtes. Alle diese elementaren Em¬
pfindungen werden aber in Bezug auf den Sehenden räumlich geordnet.
Dies geschieht bei allen Formen der Netzhauterregung, auch bei solchen,
welche gar nicht durch die Lichtausstrahlung äußerer Objecte verursacht
sind, wie bei den Druckbildern und elektrischen Lichtfiguren, die von
mechanischer und elektrischer Reizung des Auges herrühren, sowie bei den
entoptischen Erscheinungen, bei denen wir die Schatten im Auge vorhan¬
dener undurchsichtiger Theile wahrnehmen2). Ebenso verlegen wir die
Nachbilder nach außen, gleich als wenn sie unmittelbar in äußeren Ge¬
genständen ihre Ursache hätten3). Indem wir nun untersuchen, wie diese
regelmäßige Beziehung der Netzhautbilder auf einen äußeren Raum und
auf ausgedehnte Gegenstände in demselben entsteht, wollen wir vorläufig
die Existenz einer nach drei ebenen Dimensionen angeordneten Außen¬
welt als gegeben voraussetzen. Unsere Aufgabe ist es, nachzuweisen, wie
wir vermittelst der Netzhautbilder diese Außenwelt reconstruiren. Wii
werden also vorerst davon absehen, dass die Existenz der Außenwelt
selbst einen wesentlichen Theil ihrer Beglaubigung den Gesichtsvor¬
stellungen entnimmt. Um die einzelnen Momente, welche bei der Bildung
der letzteren Zusammenwirken, möglichst zu trennen, wollen wir 1) das
Netzhautbild des ruhenden Auges und die in diesem zur Bildung der
Vorstellung gelegenen Motive erwägen', hieran soll sich 2) die Betrachtung
des bewegten Auges und des Einflusses der Augenbewegungen an¬
schließen, worauf endlich 3) die durch die Existenz zweier in Gemein¬
schaft functionirender Sehorgane gegebenen Bedingungen des Sehens zer¬
gliedert werden. Es bedarf übrigens kaum der Bemerkung, dass diese
Trennung durchaus künstlich und nur durch die Uebersichtlichkeit der
Untersuchung geboten ist. Das Auge ist von Anfang an ein bewegtes
Organ, und es functionirt normaler Weise stets als Doppelauge.
1) Lehrb. d. Physiol. § 115.
3) Siehe I, Cap. IX, S. 435.
2) Ebend. § 118, 120.
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