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Gehörsvorstellungen.
Unter der variabeln Klangverwandtschaft verstehen wir die
Thatsache, dass verschiedene Klänge je nach dem Yerhältniss ihrer Ton¬
höhe in wechselndem Grade mit einander übereinstimmen können, wäh¬
rend der allgemeine Charakter derselben ungeändert bleibt. Die variable
und die constante Klangverwandtschaft sind natürlich nicht ganz unab¬
hängig von einander. Namentlich muss der Umstand, ob ein Klang dem
starken Mitklingen der Partialtöne oder dem Mangel derselben, ob er den
geradzahligen oder ungeradzahligen Partialtönen seine charakteristische Fär¬
bung verdankt, auch die variable Klangverwandtschaft beeinflussen. Es
würde uns zu weit führen, die mannigfachen Modificationen zu unter¬
suchen, welche die von der Tonhöhe abhängige Verwandtschaft in Folge
dieser Verhältnisse des constanten Klangcharakters erfahren kann. Es mag
daher an dem allgemeinsten Fall genügen, der für die Feststellung der
variabeln Klangverwandtschaft, wie sie sich in den Gesetzen der musika¬
lischen Harmonie ausgeprägt hat, vorzugsweise bestimmend gewesen ist
Dies ist jene Verwandtschaftsbeziehung, welche die Klänge darbieten, wenn
in ihnen [der Grundton von höheren Obertönen begleitet wird, deren
Schwingungszahlen das 2-, 3-, 4fache u. s. w. der Schwingungszahl des
Grundtons betragen, und deren Intensität rasch abnimmt, so dass sie im
allgemeinen höchstens bis zum zehnten Partialton zu berücksichtigen sind.
Ein Klang von der hier vorausgesetzten Beschaffenheit entspricht nach
früheren Erörterungen dem allgemeinsten Schwingungsgesetz tönender
Körper, indem die letzteren in der Regel, während sie als ganze schwin¬
gen, zugleich in ihren einzelnen Theilen Schwingungen ausführen, die sich
wie die Reihe der einfachen ganzen Zahlen verhalten1). Wo vermöge
besonderer Bedingungen der Klangerzeugung einzelne Glieder dieser Reihe
ausfallen, da werden doch in größeren Zusammenklängen solche Lücken
regelmäßig ergänzt, wie dies namentlich das Beispiel unserer modernen
Harmoniemusik zeigt. Einen in der angegebenen Weise von gerad- und
ungeradzahligen Obertönen mit rasch abnehmender Intensität begleiteten
Klang können wir darum einen vollständigen Klang nennen. In der
That ist ein solcher, während sein eigener Charakter unverändert bleibt,
am besten geeignet, die von der Tonhöhe abhängige Klangverwandtschaft
hervorzuheben. Da auf der letzteren die Gesetze der musikalischen Klang¬
verbindung beruhen, so kann sie auch die musikalische Verwandtschaft
der Klänge genannt werden. Wir können zwei Fälle derselben unter¬
scheiden: entweder sind verschiedene Klänge direct mit einander ver¬
wandt, indem sie gewisse Bestandtheile mit einander gemein haben; oder
sie sind indirect verwandt, insofern nämlich, als sie selbst Bestandtheile
1) Vgl. I, S. 418 f.