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Metaphysische Hypothesen über das Wesen der Seele.
vorgegangen sind. Schon mit Rücksicht auf diesen gemischten Ursprung
und ihre überall hervortretende Tendenz, der psychologischen Erfahrung
vorauszueilen, werden wir von diesen Hypothesen keine Aufschlüsse er¬
warten dürfen, die allen Erfordernissen genügen. Trotzdem werden wir
an denselben schon deshalb nicht vorübergehen können, weil uns in ihnen
Anschauungen begegnen, die heute noch weit verbreitet sind, und die
ihre Wirkung auf die Auffassung der innern Erfahrung immer noch in
reichem Maße ausüben. Auch werden wir immerhin vermuthen dürfen,
dass Vorstellungen, die sich so lange erhalten und eine so große Bedeu¬
tung gewonnen haben, nicht ohne eine gewisse, wenn auch möglicher¬
weise sehr beschränkte und nur relative, Berechtigung sein können. Eine
eingehende Kritik metaphysischer Systeme liegt jedoch unserer Aufgabe
fern. Wir müssen uns hier auf eine kurze Erörterung der drei für
die Beantwortung des psychologischen Problems maßgebenden metaphy¬
sischen Anschauungen beschränken, welche, aus frühen mythologischen
Vorstellungen gemeinsam entsprungen, in der philosophischen Speculation
sich allmählich geschieden haben. Diese drei Anschauungen sind die des
Materialismus, des Spiritualismus und des Animismus.
1. Materialismus.
Der Materialismus ist die älteste philosophische Weltanschauung. In
der Geschichte der Philosophie ist er in einer doppelten, einer dualisti¬
schen und monistischen Form aufgetreten. Der dualistische Mate¬
rialismus oder der Materialismus mit den zwei Materien begegnet uns
in jenen frühesten naturphilosophischen Lehren, welche das Geistige auf
eine feinere, mit dem körperlichen Stoff äußerlich verbundene Materie
zurückführen. Nur selten ereignen sich noch in neueren Zeiten bei
Geistern, die sonst dem Spiritualismus zugeneigt sind, Rückfälle in diese
mehr mythologische als philosophische Anschauung. Im Gegensätze zu
ihr ist der monistische Materialismus ein verhältnissmäßig spätes,
zumeist aus einer skeptischen Bestreitung überkommener spiritualistischer
Lehren hervorgegangenes Erzeugniss des philosophischen Denkens.
Diese zweite Form des Materialismus, die gegenwärtig allein noch
wissenschaftliche Bedeutung beansprucht, stützt sich einerseits auf die
verhältnismäßige Sicherheit unserer Vorstellungen über die Objecte der
Außenwelt gegenüber dem unsichern und schwankenden Charakter der
innern Erfahrung, anderseits auf die von keinem vorurtheilsfreien Psy¬
chologen zu verleugnende Thatsache der durchgängigen Gebundenheit des
geistigen Lebens an körperliche Vorgänge. Sie betrachtet demnach das
Psychische entweder als eine Wirkung oder als eine Eigenschaft der