Automatische lind reflectorische Bewegungen.
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der individuellen Entwicklung werden wir unten bei der Betrachtung der
willkürlichen Bewegungen noch kennen lernen.
Eine scharfe Unterscheidung der Reflexbewegungen von den Instinct- und
Willenshandlungen ist erst in der neueren Physiologie zur Durchführung gelangt.
Nachdem zuerst Haller durch seine Irritabilitätslehre den Satz zur Geltung ge¬
bracht hatte, dass Bewegung und Empfindung getrennte Functionen seien, die
sich darum nicht nothwendig begleiten müssten, galt durch die Feststellung der
Grundgesetze der Reflexbewegungen, welche die Physiologie namentlich den
Untersuchungen von Prochaska und J. Müller1) verdankt, die rein mechanische
Natur dieser Bewegungen im allgemeinen als sichergestellt. Auf die merkwür¬
dige Anpassung der Reflexbewegungen an die Einwirkungsart der Reize hat
hauptsächlich Pflüger aufmerksam gemacht und aus seinen Versuchen den
Schluss gezogen, dass ein niederer Grad von Bewusstsein und Willen auch noch
im Rückenmark nach der Entfernung des Gehirns zurückbleibe2). Mehrere
Physiologen schlossen sich ihm an, von andern wurde die Auffassung vertreten,
dass es auch hier nur um complicirtere mechanische Wirkungen sich handle.
Lotze, der dieser letzteren Auffassung zuneigte, suchte gewisse Bewegungen
auf die mechanischen Nachwirkungen der Intelligenz zurückzuführen, auf die
Einflüsse der Uebung und Gewöhnung hinweisend3). Dass aber diese Erklärung
mindestens nicht für alle Erscheinungen zureicht, hat schon Goltz hervorge¬
hoben und durch verschiedene Versuche erläutert4 5). Er nahm daher, ähnlich
wie es Schiff0) schon früher gethan, umfangreiche Selbstregulirungen bei den
Reactionen des Rückenmarks an und suchte dies durch die Verschiedenheiten
in dem Verhalten enthaupteter und bloß geblendeter Frösche zu stützen. Bei
solchen Thieren dagegen, denen bloß die Großhirnhemisphären genommen sind,
glaubte auch Goltz einen gewissen Grad psychischer Functionen zugeben zu
müssen, indem er den Grundsatz aufstellte, überall wo die Bewegungen so
verwickelter Natur seien, dass man sich eine Maschine, welche dieselben aus-
führe, nicht mehr vorstellen könne, sei das Vorhandensein von Seelenvermögen
anzuerkennen6). Aber es scheint mir zweifelhaft, ob ein Mechanismus, wie er
den Rückenmarksreflexen zu Grunde liegt, uns nicht auch schon sehr schwei-
vorstellbar ist. Jedenfalls kann hier nirgends eine scharfe Grenze gezogen
werden, während eine solche deutlich zu bemerken ist, sobald spontane,
cl. h. nicht aus äußeren Reizen sondern aus reproclucirten Vorstellungen ent¬
springende Bexvegungen auftreten. Dies geschieht aber nur dann, wenn min¬
destens ein Theil der Großhirnlappen erhalten blieb. In dem Vorhandensein
eines sogenannten Anpassungsvermögens liegt, wie ich glaube, ebensowenig wie
in der Zweckmäßigkeit der Bewegungen ein Grund für die Existenz von Be¬
wusstsein. Denn Anpassungsvermögen besitzt das Rückenmark oder irgend eine
künstliche, mit Regulirungsvorrichtungen versehene Maschine auch, und Grad¬
unterschiede können hier keine wesentliche Differenz begründen. Bewusstsein
in dem Sinne, den wir gemäß unserer Selbstbeobachtung mit diesem Begriff
1) Müller, Handbuch der Physiologie, I, 4. Auf)., S. 60S.
2) Pflüger, Die sensorischen Functionen des Rückenmarks, S. 4 6, 414 ff.
3) Lotze, Göttinger gelehrte Anzeigen, t 853, S. 1 748 ff.
4) Goltz, Functionen der Nervencentren des Frosches, S. 82 ff.
5) Lehrbuch der Physiologie, I, S. 214 f.
6) A. a. 0. S. I 13.
Wundt, Gnindzüge. II.
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