Automatische und reflectorische Bewegungen.
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Wirkung der Reize verfließen, so sieht man immer wieder die nämlichen
fruchtlosen Anstrengungen der endlich gelingenden richtigen Bewegung
vorangehen, und in vielen Fällen kommt diese gar nicht zu Stande. Hier
ist also auch der mechanisch erleichternde Einfluss der Uebung schon
wieder verloren gegangen1).
Verwickeltere Bewegungen erfolgen auf die Einwirkung äußerer Reize,
wenn die Großhirnlappen entfernt, aber die Hirnganglien, namentlich die
Vier- und Sehhügel, ganz oder theilweise erhalten geblieben sind. Wir
haben die physiologische Bedeutung dieser 'Gebilde, wie sie sich theils aus
dem Verhalten der Leitungsbahnen in denselben, theils aus den Erschei¬
nungen nach ihrer Durchschneidung oder Ausrottung ergeben, im ersten
Abschnitte schon besprochen2). Dort sind wir zu dem Ergebnisse ge¬
langt, dass die Vier- und Sehhügel complicirte Reflexcentren darstellen,
indem in den ersteren die auf das Auge, in den letzteren die auf das
Tastorgan wirkenden Eindrücke zusammengesetzte Bewegungen auslösen.
Hier haben wir uns nur noch mit der Frage zu beschäftigen, ob und in¬
wiefern die physiologische Function aller dieser Gebilde nebenbei etwa
mit Empfindung und mit einem gewissen Grade von Bewusstsein verbunden
sein möchte.
Wollte man bloß den Maßstab der Zweckmäßigkeit und der Anpas¬
sung an die Beschaffenheit der Reize an die von jenen Centraltheilen
ausgehenden Bewegungen anlegen, so würde man natürlich in ihnen einen
viel deutlicheren Ausdruck psychischer Functionen erkennen müssen als
in den Rückenmarksreflexen. Ein Frosch, der seine Vierhügel noch besitzt,
weicht, wenn er durch einen Reiz zu Fluchtbewegungen angeregt wurde,
einem in den Weg gestellten Hinderniss aus3). Wird die Unterlage, auf
1) Schlagend ist in dieser Beziehung auch der folgende von Goltz ausgeführte
Versuch. Ein enthaupteter und ein geblendeter Frosch werden in ein Gefäß gesetzt,
dessen Boden mit Wasser bedeckt ist, und das man dann allmählich von außen erhitzt.
Ist die Temperatur auf 25° C. gestiegen, so wird der behirnte Frosch unruhig, er be¬
ginnt schneller zu athmen und sucht zuletzt durch verzweifelte Sprünge dem heißen
Bad zu entrinnen, bis er, bei etwa 420, unter heftigen Schmerzäußerungen und teta-
nischen Krämpfen verendet. Indessen bleibt der enthauptete Frosch regungslos sitzen,
bis endlich die Wärmestarre der Muskeln und der Tod eintritt. Wirft man einen
zweiten Frosch, dessen Gehirn entfernt worden ist, plötzlich in das erhitzte Wasser, so
verfällt er alsbald in heftige Krämpfe und stirbt so ähnlich dem unverstümmelten Thiere.
(Goltz, Königsberger med. Jahrb., II. S. 218. Functionen der Nervencentren des
Frosches, S. 127.) Dieser Versuch zeigt sehr deutlich, wie der Mechanismus des
Rückenmarks gemäß dem allgemeinen Gesetz der Nervenerregung nur auf solche Reize
reagirt, die mit einer gewissen Geschwindigkeit einwirken, während ein allmählich an¬
wachsender Reiz völlig" wirkungslos bleibt. Bei dem hirnlosen Thier kommt nur dieses
Gesetz der Nervenerregung zur Erscheinung. Nichts deutet darauf hin, dass in ihm
ein Bewusstsein die allmähliche Steigerung des Reizes wahrzunehmen, d. h. die momen¬
tane Empfindung in ihrem Verhältnis zu den vorangegangenen Empfindungen aufzu¬
fassen vermöge.
2) Cap. V, I, S. 199 ff. 3) Siehe oben I, S. 200.