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Einfluss des Willens auf die Körperbewegungen.
Rückenmarksreflexen, die bei Thieren nach der Entfernung des Gehirns,
beim Menschen zuweilen im Schlafe beobachtet werden, kann derselbe
vollständig fehlen. Der einwirkende Reiz hat eine auf den gereizten Kör-
pertheil beschränkte oder weiter verbreitete Zuckung zur Folge, welche
auf kein bestimmtes Ziel gerichtet ist. Die schwächsten und die stärk¬
sten Reflexe pflegen vorzugsweise diesen zwecklosen Charakter an sich zu
tragen. So reagirt z. R. ein enthauptetes Thier auf Berührung in der
Regel durch eine beschränkte, meist erfolglose Zuckung. Bei sehr ge¬
steigerter Reizbarkeit des Rückenmarks aber, z. B. nach Strychninver¬
giftung, verfällt es nach jedem Reiz in allgemeine Krämpfe. Auch in
den Gesetzen der Reflexleitung1) kommen offenbar nur die mechanischen
Bedingungen der Fortpflanzung des Reizes zum iVusdruck.
Anders gestalten sich die Erscheinungen meistens bei Reflexbewe¬
gungen von mittlerer Stärke. Ein enthaupteter Frosch bewegt das Bein
gegen die Pincette, mit der man ihn reizt, oder er wischt den Tropfen
Säure, den man auf seine Haut bringt, mit dem Fuße ab. Einer mecha¬
nischen oder elektrischen Reizung sucht er sich zuweilen durch einen
Sprung zu entziehen. In eine ungewöhnliche Lage gebracht, z. B. auf
den Rücken gelegt, kehrt er wohl auch in seine vorherige Körperlage
zurück. Hier führt also der Reiz nicht bloß im allgemeinen eine Be¬
wegung herbei, die sich mit zunehmender Reizstärke und wachsender
Reizbarkeit von dem gereizten Körpertheil ausbreitet, sondern die Re-
wegung ist angepasst dem äußeren Eindruck. In einem Fall ist sie auf
Beseitigung des Reizes, in einem zweiten auf Entfernung des Körpers aus
dem Bereich des Reizes, in einem dritten auf Wiederherstellung der vo¬
rigen Körperlage gerichtet. Noch deutlicher tritt diese zweckmäßige An¬
passung in solchen Versuchen hervor, in denen man die gewöhnlichen
Bedingungen der Bewegung irgendwie abändert. Ein Frosch z. B., dem
auf der Seite, auf welcher er mit Säure gereizt wird, das Bein abge¬
schnitten wurde, macht zuerst einige fruchtlose Versuche mit dem ampu-
tirten Stumpf, wählt dann aber ziemlich regelmäßig das andere Bein,
welches beim unverstümmelten Thier in Ruhe zu bleiben pflegt2). Be¬
festigt man den geköpften Frosch auf dem Rücken und benetzt die innere
Seite des einen Schenkels mit Säure, so sucht er die letztere zu entfernen,
indem er die beiden Schenkel an einander reibt; zieht man nun aber
den bewegten Schenkel weit vom andern ab, so streckt er diesen nach
einigen vergeblichen Bewegungen plötzlich herüber und erreicht ziemlich
sicher den Punkt, welcher gereizt wurde3). Zerbricht man endlich ge-
1) Vgl. I, S. 4 07.
2) Pflüger, Die sensorischen Functionen des Rückenmarks, S. 4 23.
3) Auerbach in Güxsburg's Zeitschr. f. klin. Med., IV, S. 487.