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Tast- und Bewegungsvorstellungen.
räumlichen Ordnung in sich tragen können, lässt Bain, der hauptsächlich die
Bewegungshypothese ausgebildet hat, jene Vorstellung aus einer Verbindung der
Bewegungsempfindungen mit der Zeitvorstellung hervorgehen1). Indem nämlich
unsere Bewegung je nach ihrer Schnelligkeit die nämlichen Intensitätsabstufungen
in verschiedener Zeitdauer zurücklegen kann, muss sich nach Baix die Vor-
Stellung des Raumumfangs der Bewegung ATon derjenigen ihrer Zeitdauer trennen.
Aehnlich bildet sich die räumliche Ordnung der Tastempfindungen. Indem wir
successiv eine Reihe von Gegenständen bei verschiedener Geschwindigkeit be¬
tasten, wird die Ordnung der Eindrücke als unabhängig von ihrer zeitlichen
Succession aufgefasst, nnd sie werden eben deshalb als neben einander
geordnet vorgestellt. Als Maß der Entfernung dient aber wieder die Bewegungs¬
empfindung, in der somit alle Localisation ihren Grund hat. In dieser Hypo¬
these liegt die richtige Erkenntniss, dass zum Vollzug räumlicher Vorstellungen
stets verschiedenartige Elemente Zusammenwirken müssen, da in einem einzigen
irgendwie abgestuften System von Empfindungen niemals der Grund liegen kann,
außer der qualitativen und intensiven Reihe dieser Empfindungen noch eine
weitere Ordnung, die räumliche, zu setzen. Doch der Fehler besteht darin,
dass man zum eigentlichen Vehikel der Raumvorstellung die Zeitanschauung
macht. Nach ihr müsste eine gewisse Folge von Empfindungen zur Raumstrecke
werden, sobald deren Succession mit variabler Geschwindigkeit vor sich geht.
Aber dies ist der Weg, auf welchem eben die Vorstellung der Geschwindigkeit,
nicht die des Raums entsteht, wie das Beispiel anderer Empfindungen, z. B. der
Gehörsempfindungen, deutlich macht. Eine Reihe von Tonintensitäten oder Ton¬
höhen mit wechselnder Geschwindigkeit wiederholt führt nie zur räumlichen
Ordnung. So bleibt schließlich doch an den Bewegungsempfindungen die spe-
cifische Eigenschaft kleben, dass sie ihre Intensitäten in eine räumliche Reihe
bringen, was der ursprünglichen Auffassung Berkeley’s gleichkommt. Außerdem
begegnet die Hypothese dem Einwande, dass sie nicht erklärt, warum auch das
ruhende Tastorgan fähig ist seine Eindrücke zu localisiren und räumlich zu
ordnen. Um diesen Einwand zu beseitigen, muss sie sich mit der Amrigen
Ansicht combiniren : sie muss Localzeichen annehmen, welche die Wiederer¬
kennung eines Eindrucks in Bezug auf den Ort seiner Einwirkung möglich machen.
Hiermit ist aber derjenigen Theorie der Boden bereitet, welche wir oben ent¬
wickelt haben2).
Man hat gegen diese Theorie eingewandt, die Localzeichen in ihrer Ver¬
bindung mit den Bewegungsempfindungen enthielten ebenso wenig etwas von
der Raumanschauung wie die Localzeichen allein, und der Ausdruck »psychische
Synthese« sei eine Analogie, welche den Vorgang selbst nicht im mindesten
erkläre3). Dieser Einwand ist aber deshalb nicht zutreffend, Aveil er der Theorie
1) A. Bain, The senses and the intellect. 2. edit. London 1864, p. 197 ff. Mit der
Theorie Bain’s stimmt eine ältere deutsche Arbeit von Steinbuch in den wesentlichsten
Punkten überein. (Steinbuch, Beitrag zur Physiologie der Sinne. Nürnberg 1811.)
2) Die Grundzüge derselben sind zuerst in der 1858 erschienenen ersten Abhand¬
lung meiner »Beiträge zur Theorie der SinnesAvahrnehmung« (S. 48—65) auseinander¬
gesetzt.
3) Vgl. z. B. Lipps a. a. O. S. 511. W. James findet sogar, dass die so genannte
psychische Synthese ein »mysteriöser Vorgang« sei (Mind, Apr. 1 887, p. 208). Gewiss,
die Vorstellungen, die James mit diesem Namen verbindet, mögen sehr mysteriöser
Natur sein. Dass meine eigenen Voraussetzungen es nicht sind, daran wird wohl nach
den obigen Erörterungen kein Zweifel bestehen bleiben.