Theorie der Localisation und der räumlichen Tastvorstellungen.
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Lotze, dass sie aus einem System von Mitempfindungen bestehen, welche
durch die Ausbreitung des Reizes auf umgebende Theile verursacht werden.
Ist nun diese Theorie insofern gewiss auf dem richtigen Wege, als sie nach
physiologischen Vorbedingungen der Localisation in den Sinnesorganen sucht,
so sind doch in den angenommenen Localzeichen keine zureichenden Motive
zu einer solchen gegeben. Denn wenn auch die Localzeichen durch ihre Ge¬
bundenheit an den Ort des Eindrucks vielleicht von jenen Qualitäten der Em¬
pfindung sich ablosen, welche ihre Ursache in dem äußeren Reize haben,
weil sie eben mit der wechselnden ßeschaffenheit des letzteren nicht wechseln,
so ist deshalb doch noch nicht im mindesten einzusehen, weshalb sie in eine
räumliche Ordnung gebracht werden sollen. Als Hülfsmittel der Localisation
könnten sie nur dann dienen, wenn die Raumvorstellung von vornherein ge¬
geben wäre, und die Localzeichen nur benützt würden, um mit ihrer Hülfe den
Ort des Eindrucks festzustellen. In der That hebt auch Lotze hervor, dass
seine Theorie nicht die Raumanschauung erklären solle, die ein unserer Seele
a priori angehöriges Besitzthum sei, sondern dass sie nur die Hülfsmittel dar¬
legen wolle, durch welche wir dem einzelnen Eindruck seine bestimmte Stelle
im Raume anweisen. Aber damit ist die oben geltend gemachte Schwierigkeit
nicht beseitigt. Wir begreifen nicht, warum aus qualitativen Zeichen, wenn
sie noch so regelmäßig abgestuft sind, eine räumliche Ordnung entstehen soll,
mag diese nun eine ursprüngliche Erzeugung oder eine bloße Reconstruction
des Raumes genannt werden. Dass solche qualitative Signale bestimmten Orten
unseres Sinnesorganes anhaften, erschließen wir ja erst aus der Fähigkeit der
Localisation; jene Signale können also nicht zu ursprünglichen Hülfsmitteln der
Ortsunterscheidung gemacht werden. Th. Lipps hat diese Schwierigkeit dadurch
zu heben gesucht, dass er auf die variabeln Verbindungen hinwies, in welche
die Localzeichen mit einander treten müssten, je nachdem verschiedene Haut¬
stellen gleichzeitig berührt werden. Dadurch werde, auch wenn man eine
ursprüngliche Tendenz zur intensiven Verschmelzung aller gleichzeitigen Empfin¬
dungen voraussetze, doch allmählich eine Trennung gerade jener in der Ver¬
bindung wechselnden Elemente eintreten1). Aber wenn auch anerkannt werden
muss, dass in dieser Variabilität der Elemente in der That wohl ein für alle
Unterscheidung sehr wichtiges psychologisches Moment liegt, welches darum
auch im vorliegenden Falle in Anschlag gebracht werden mag, so ist doch nicht
einzusehen, wie diese intensive zu einer extensiven Unterscheidung werden
könne. Eine ähnliche Veränderlichkeit ist ja auch noch an den objectiven Be-
standtheilen complexer Eindrücke und bei Empfindungen möglich, die wir nie¬
mals extensiv ordnen. In diesem Sinne lässt sich Lotze’s oben erwähnter
Einwand gegen die HERBART’sche Reihentheorie in veränderter Form auch gegen
diese Ansicht wiederholen.
Vierte Ansicht: Die Raumanschauung entspringt aus der eigenen Be¬
wegung; die ursprünglichste räumliche Vorstellung ist daher die Bewegungs¬
vorstellung. Letztere gewinnen wir aus den intensiv abgestuften Bewegungs¬
empfindungen. Bis hierhin schließt sich diese Ansicht unmittelbar der Berkeley-
schen Theorie an, deren Weiterbildung sie ist. Aber in der Erkenntniss, dass
intensiv abgestufte Empfindungen an und für sich noch keine Nöthigung zur
1) Th. Lipps, Grundthatsachen des Seelenlebens. Bonn 1883, S. 472 ff. und be¬
sonders S. 496 ff.