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Störungen des Bewusstseins.
gesteigerten Reizbarkeit der centralen Sinnesflächen die Disposition zu
Phantasmen gegeben ist, so werden die normalen äußeren Sinnesreize die
Erreger von Illusionen. Dabei erscheint theils die Intensität der Sinnes¬
reize verstärkt, theils werden die Wahrnehmungen in ihrer Qualität und
Form auf das mannigfaltigste phantastisch verändert. Der Hailucinirende
hält ein leises Pochen an der Thüre für Grollen des Donners, das Sausen
des Windes für himmlische Musik. Wolken, Felsen und Bäume nehmen
die Formen phantastischer Geschöpfe an. In seinem eigenen Schatten
sieht er Gespenster oder verfolgende Thiere. Vorübergehende Menschen
betrachten ihn, wie er glaubt, mit feindlichen Blicken oder schneiden ihm
Fratzen; ihre Gespräche hält er für Schimpfreden, die sich auf ihn be¬
ziehen, u. dergl. Am freiesten kann natürlich die Einbildung mit den
Sinneseindrücken schalten, wenn diese sehr unbestimmt sind, daher auch
die Phantasie des Gesunden sich miULeichtigkeit in die verschwimmenden
Umrisse der Wolken, in die regellosen Anhäufungen ferner Gebirge und
Felsmassen die verschiedensten Gestalten hineindenkt]). Aus demselben
Grunde ist hauptsächlich die Nacht die Zeit der phantastischen Vorstel¬
lungen. In der Nacht w7ird dem Gespenstergläubigen ein Stein oder
Baumstumpf zur Spukgestalt, und im Rauschen der Blätter hört er un¬
heimliche Stimmen. Dabei ist, wie schon bei der Hallucination, die be¬
günstigende Wirkung des Affectes nicht zu verkennen. Alle diese Phan¬
tasmen der Nacht evistiren nur für den Furchtsamen; dem Auge und Ohr
des Besonnenen halten sie nicht Stand. Ebenso ist der Einfluss geläufiger
Associationen oft deutlich zu bemerken. So wird edler Orten von dem
Gespenstergläubigen mit Vorliebe ein kürzlich Verstorbener in den Schatten¬
bildern der Nacht gesehen1 2).
1) Die Phantasiebilder aus Wolken schildert Shakespeare in der Scene zwischen
Polonius und Hamlet, 3. Act, Schluss der 2. Scene, die phantastischen Naturgestalten
Goethe in dem bekannten Wechselgesang der Blocksbergsscene : »Seh’ die Bäume hinter
Bäumen, wie sie schnell vorüberrücken, und die Klippen, die sich bücken, und die
langen Felsennasen, wie sie schnarchen, wie sie blasen!« J. Müller erzählt, wie er
sich in seiner Kindheit Stunden lang damit beschäftigt, in der theilweise geschwärzten
und gesprungenen Kalkbekleidung eines dem Fenster seiner Wohnung gegenüberliegen¬
den Hauses die Umrisse der verschiedensten Gesichter zu sehen, die dann freilich
Andere nicht erkennen wollten. (Phantastische Gesichtserscheinungen, S. 45.)
2) Ein charakteristisches Beispiel, welches gleichzeitig den Einfluss des Affectes
und der Reproduction nachweist, ist das folgende, das Lazarus (a. a. O. S. 4 26) nach
Dr. Moore mittheilt. Die Bemannung eines Schiffs wurde erschreckt durch das Ge¬
spenst des Kochs, welcher einige Tage zuvor gestorben war. Er wurde von Allen
deutlich gesehen, wie er auf dem Wasser mit dem eigenthümlichen Hinken ging, durch
welches er gekennzeichnet war, da eins seiner Beine kürzer gewesen als das andere.
Schließlich ergab sich aber der Spuk als ein Stück von einem alten Wrack.