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Gemüthsbewegungen.
ihrer allgemeinen Anlage sondern vielfach auch in ihren besonderen Ge¬
staltungen erscheinen sie als angeborene Formen des Begehrens. Die
psychologische Theorie dieser angeborenen thierischen Triebe, welche man
auch als Instincte bezeichnet, schwankt zwischen zwei Extremen. Nach
der einen Ansicht bringt das neugeborene Wesen schon die Vorstellungen,
auf die sich sein Trieb bezieht, zur Welt mit. Dem Vogel schwebt das
Nest, das er bauen soll, der Biene ihre Wachszelle als fertiges Bild vor.
Die entgegengesetzte Auffassung betrachtet die instinctiven Handlungen
ganz und gar als Erzeugnisse einer individuellen Erfahrung, wobei jedes
Wesen theils durch das Beispiel anderer theils durch eigene Ueberlegung
bestimmt wird. Beide Theorien verfehlen das Ziel, weil sie den Instinct
für ein angeborenes oder erworbenes Erkennen halten, also das Wesen
desselben in den Erkenntnissprocess verlegen. Darwin sieht die Instincte
als Gewohnheiten an, die, durch natürliche oder künstliche Züchtung ent¬
standen, sich auf die Nachkommen vererben, indem sie dabei unter Fort¬
wirkung constanter Naturbedingungen verstärkt werden1). Mit Recht wird
hier das Gesetz der Vererbung betont als ein wesentliches Moment der
Erklärung. Aber die Gewohnheit, mit der schon Condillac und F. Cuvier
die Instincte verglichen2), ist ein unbestimmter Begriff, welcher den psy¬
chologischen Vorgang ganz und gar dunkel lässt. Denn es fragt sich,
wie jene Gewohnheiten entstanden sind, die in ihrer Vererbung und
Häufung die so außerordentlich verschiedenen Instincte der Thiere erzeugt
haben. Der Hinweis auf die Einflüsse der Züchtung hebt nur gewisse
äußere Lebensbedingungen hervor; die psychologische Frage richtet sich
aber vor allem auf die inneren Bestimmungsgründe, die bei der ersten
Entstehung instinctiver Handlungen wirksam gewesen sind, und die bei
dem Wiederauftreten derselben in jedem einzelnen Individuum einer Spe¬
cies immer noch wirksam sein werden. Dieser Antrieb zur Ausführung
der Instincthandlungen kann nun unmöglich in vererbten Vorstellungen
liegen, welche als fertige Bilder vor dem Bewusstsein schweben. Denn
erstens würde das Vorhandensein solcher Vorstellungen an und für sich
das Hervortreten der Handlung noch gar nicht erklären; für diese müsste
immer noch ein besonderer Antrieb vorausgesetzt werden. Zweitens be¬
merken wir in jenen Fällen, wo sich wirklich ein Trieb in seiner ursprüng¬
lichen inneren Natur verfolgen lässt, durchaus nichts von dem Vorhanden¬
sein bestimmter Vorstellungen3). Diese innere Entwicklung der Triebe
können wir freilich nicht an den Instincten der Thiere, sondern nur an
1) Darwin, Ueber die Entstehung der Arten. Deutsch von Bronn, S. 217.
2) Flourens, De l'instinct et de l'intelligence, p. 107. Vgl. auch Th. Ribot, Die Erb¬
lichkeit. Deutsche Ausgabe. Braunschweig 1 876, S. 1 3 ff.
3) Vgl. hierzu Cap. XV, S. 231 ff.