Affecte und Triebe.
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in die Richtungen des Begehrens und des Widerstrebens. Wie
Gefühl und Affect, so hat auch der Trieb eine Indifferenzlage zwischen
beiden Gegensätzen. Nahe dieser Indifferenzlage befinden wir uns z. B.
in dem Zustande der einfachen Erwartung, wo überhaupt nur ein Ein¬
druck begehrt wird, die Beschaffenheit desselben aber gleichgültig ist.
Begehren und Widerstreben bilden die Grundlage aller Willenshand¬
lungen. Die geistige Entwicklung des Menschen macht in dieser Be¬
ziehung keinen Unterschied. Sie hebt nicht die Triebe auf oder lehrt sie
unterdrücken, sondern sie erweckt nur neue und höhere Formen des Be¬
gehrens, welche über die in dem Thier und in dem Naturmenschen wirk¬
samen Triebe immer mehr die Herrschaft erlangen. Nicht in der Freiheit
von Trieben oder in ihrer Bezwingung besteht also die Errungenschaft
der Cultur, sondern in einer Vielseitigkeit derselben, yon welcher das
Thier, bei dem das sinnliche Begehren alles Handeln lenkt, keine Ahnung
hat. Diese wachsende Vielseitigkeit des Begehrens begründet nun aller¬
dings den wesentlichen Unterschied, dass mit ihr der Widerstreit ver¬
schiedener Triebe im Bewusstsein zunimmt, während das Thier und bis
zu einem gewissen Grade auch noch der Naturmensch durch die sinnlichen
Gefühle, welche die äußeren Eindrücke in ihnen erregen, meistens un¬
mittelbar und eindeutig bestimmt sind. Doch können wir immerhin einen
Streit zwischen verschiedenen Trieben zuweilen auch schon bei den in¬
telligenteren Thieren beobachten. Der Hund z. B. schwankt zwischen dem
Begehren nach einer Fleischschüssel und dem Widerstreben vor der Strafe,
die, wie er aus Erfahrung weiß, dem verbotenen Genüsse zu folgen pflegt.
Ein geringer äußerer Anlass, die drohend erhobene Hand des Herrn oder
im Gegentheil eine ermunternde Bewegung, kann hier dem einen oder
andern Antrieb zum Sieg verhelfen.
Wie wir die Gefühle in zwei Hauptclassen scheiden können, in solche,
die an die reine Empfindung gebunden sind, und in andere, die von den
Vorstellungen ausgehen, so lassen sich auch die Triebe trennen in einfach
sinnliche, die in einem Begehren nach sinnlichen Lustgefühlen und in
einem Widerstreben gegen sinnliche Unlustgefühle bestehen, und in höhere,
die in den mannigfachen Gestaltungen der ästhetischen und intellectuellen
Gefühle ihre Wurzel haben. Auch hier mangelt aber der entwickelteren
Form nicht die sinnliche Grundlage. Das Kunstwerk, in welchem das
sinnliche Gefühl getragen und beherrscht wird von einer sittlichen Idee,
ist darin zugleich ein Vorbild der menschlichen Lebensführung.
Jedes Wesen bringt gewisse sinnliche Triebe als ein angeborenes
Besitzthum zur Welt mit. Der Nahrungs- und Geschlechtstrieb zeigen
sich in ihren ersten Aeußerungen gänzlich unabhängig von den voraus¬
gegangenen Fhfahrungen des individuellen Bewusstseins. Nicht bloß in