Volltext: Grundzüge der physiologischen Psychologie, 2. Band, 3.,umgearbeitete Auflage (2)

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Verbindungen der Vorstellungen. 
nicht anders als in dieser räumlichen Form memoriren, welche hingegen dem¬ 
jenigen, dessen Gedächtniss die vorwiegende Disposition zu zeitlicher Succession 
besitzt, völlig unmöglich wird. 
Nicht minder groß sind die Unterschiede des Gedächtnisses hinsichtlich 
der Intensität und Deutlichkeit der Erinnerungsbilder. Bei den meisten Menschen 
werden die Gesichtsvorstellungen am vollkommensten reproducirt; ihnen können 
sich die Schallvorstellungen nähern, während bei dem Gefühls-, dem Geruchs¬ 
und Geschmackssinn in der Regel, wie es scheint, eine Wiedererneuerung qua¬ 
litativ bestimmter Empfindungen, wie des Warmen, Sauren, Bittern, völlig 
unmöglich ist. Zuweilen tritt hier eine Bewegungsempfindung, die mit der 
betreffenden Sinnesempfindung complicirt zu sein pflegt, an Stelle der letzteren, 
so namentlich bei den mit mimischen Reflexen verbundenen Geschmacksempfin¬ 
dungen. Die Erinnerungsbilder des Gesichtssinns erscheinen bei vielen erwach¬ 
senen Personen als völlig farblose, auch in den Conturen undeutliche Zeich¬ 
nungen ; bei andern sind zwar die Conturen deutlich, aber die Farben werden 
nicht reproducirt ; bei noch andern sind die Erinnerungsbilder farbig, aber viel 
blasser als die unmittelbaren Sinnesvorstellungen. Der Fall, dass diesen die 
Phantasiebilder in Intensität der Farbe und Deutlichkeit der Zeichnung nahe 
kommen, ist, wenigstens bei erwachsenen Menschen, äußerst selten; doch 
zeigen gerade bei solchen, deren Erinnerungsbilder sonst sehr blass sind, die 
letzteren dann manchmal eine bedeutend größere Lebhaftigkeit, wenn die Sinnes¬ 
eindrücke, auf die sie sich beziehen, unmittelbar vorangegangen sind1). Viel 
* 
lebhafter sind die Erinnerungsbilder in der Jugend, und es scheint ihnen hier 
fast niemals die Farbe zu fehlen. In reiferem Alter bewahren sie, wie es 
scheint, um so mehr ihre ursprüngliche Frische, je mehr dem Bewusstsein der 
Verkehr mit äußeren Naturobjecten geläufig ist, während sie bei Gelehrten, 
die sich fast ausschließlich mit abstracten Gegenständen beschäftigen, zuweilen 
so blass und undeutlich werden, dass die Individuen selbst an dem thatsäch- 
lichen Vorhandensein von Empfindungen zweifeln können2). Außer in ihrer 
Intensität und Deutlichkeit pflegen sich übrigens die Erinnerungsbilder noch in 
einigen andern Beziehungen von den unmittelbaren Sinneseindrücken zu unter¬ 
scheiden. So werden entfernte Gesichtsobjecte fast immer verkleinert vor¬ 
gestellt, was damit Zusammenhängen dürfte, dass wir uns dieselben näher 
denken, als wir sie in der Wirklichkeit zu sehen pflegen. Ferner hat schon 
Fechner bemerkt, dass man sich in dem unsichtbaren Thcil des äußeren Ge¬ 
sichtsraumes, also hinter dem Rücken, die Erinnerungsbilder schwieriger denken 
kann als vor dem Auge: manchen Beobachtern scheint ersteres sogar ganz un¬ 
möglich zu sein 3). 
Bei der Phantasiebegabung' und Verstandesanlage lassen sich ebenfalls je 
zwei Hauptrichtungen unterscheiden. Bald hat die individuelle Phantasie in 
hohem Grade die Eigenschaft den Vorstellungen, die sie dem Bewusstsein vor¬ 
führt, lebendige Anschaulichkeit zu verleihen, bald ist sie mehr dazu angelegt 
mannigfache Combinationen der Vorstellungen auszuführen : das erste wollen 
1) Fechner, Psychophysik, II, S. 468 f. Die Reproductionen unmittelbar voran¬ 
gegangener Sinneseindrücke werden von Fechner als Erinnerungsnachbilder be¬ 
zeichnet. Uebrigens ist bei vielen Personen kein Unterschied zwischen ihnen und den 
sonstigen Erinnerungsbildern zu bemerken. 
2) Fr. Galton, Mind, July 1 880, p. 301. 
3) Fechner a. a. O S. 479.
	        
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