Geistige Anlagen.
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mit erleben lassen. Von der wissenschaftlichen Leistung fordern wir,
dass sie gewisse allgemeingültige Beziehungen des Wirklichen feststelle,
welche sich in der einzelnen Erscheinung bewähren. Demgemäß ist auch
für das gewöhnliche Denken die Grenze zwischen Phantasie- und Ver-
standesthätigkeit so zu ziehen, dass die letztere beginnt, sobald die Vor¬
stellungen begriffliche Bedeutung gewinnen. Wras wir als Denken zu be¬
zeichnen pflegen, das ist bald Phantasie- bald Verstandesthätigkeit, und
in dem normalen Verlauf unserer Vorstellungen greifen diese beiden Func¬
tionen so innig in einander ein, dass selten nur in der einen oder nur
in der andern Form eine Gedankenreihe ablaufen wird.
Gedächtniss, Phantasie und Verstand pflegen mit Rücksicht auf die Rich¬
tungen und Grade, in denen sie ausgebildet sind, noch mit verschiedenen Attri¬
buten belegt zu werden. So nennt man das Gedächtniss umfassend, wenn
es viele und verschiedenartige Vorstellungen bereit hält, treu, wenn es die
früheren Vorstellungen genau reproducirt, und wenn die Dispositionen lange
Zeit festgehalten werden, leicht, wenn es nur einer kurzen Einwirkung der
Eindrücke bedarf, um eine Wiedererweckung derselben möglich zu machen.
Außerdem pflegt man das mechanische und das logische Gedächtniss
zu unterscheiden. Unter dem ersteren versteht man das Festhalten der Asso¬
ciationen, unter dem letzteren dasjenige der apperceptiven Verbindungen der
Vorstellungen. Es geht hieraus schon hervor, dass das logische Gedächtniss
nur noch theilweise der eigentlichen Gedächtnissfunction zufällt, und dass es
zu einem andern Theil in das Gebiet der Phantasie- und Verstandesthätigkeit
hinüberreicht. Schon der Umstand, dass wir eine Gedankenverbindung, die
vermittelst ihrer logischen Beziehungen festgehalten wird, in der Regel in ver¬
änderter Anordnung reproduciren, weist auf eine derartige Betheiligung hin. Im
Gedächtniss festgehalten wird dabei zunächst nur eine Gesammtvorstellung; die
Art ihrer Zerlegung bleibt unserer Phantasie- und Verstandesthätigkeit über¬
lassen; im Verlauf einer solchen Zerlegung bilden aber dann außerdem die
einzeln appercipirten Vorstellungen Associationshülfen für andere, die früher
mit ihnen verbunden gewesen sind. Wegen dieses Ausgehens von Gesammt-
vorstellungen ist das logische Gedächtniss weit umfassender als das mechanische,
welches immer nur von einer Vorstellung zur andern mittelst der Association
fortschreitet, darum aber auch leicht in Verwirrung geräth, sobald nur an
einer Stelle die Associationsreihe unterbrochen wird. Das mechanische Ge¬
dächtniss ist bekanntlich in der Kindheit am kräftigsten ; dies gilt aber nicht
von dem logischen Gedächtniss, welches im Gegentheil erst bei gereiftem Be¬
wusstsein seine größte Leistungsfähigkeit erreicht. Ferner spielen die Asso¬
ciationsformen bei den verschiedenen Anlagen des Gedächtnisses, speciell des
mechanischen, eiue nicht unwichtige Rolle. Insbesondere gibt es Menschen
mit vorwiegend zeitlichem und andere mit vorwiegend räumlichem Gedächt¬
niss. Den ersteren vergegenwärtigen sich die Vorstellungen in der zeitlichen
Reihenfolge, in welcher sie einwirkten, den letzteren in der Form einer
räumlichen Coexistenz von Objecten oder Worten. Ein Prediger mit räumlichem
Gedächtniss z. B. behält vielleicht jede Seite und Zeile seiner memorirten Pre¬
digt im Gedächtniss und liest sie in Gedanken vor seinen Zuhörern ab; er kann
Wundt, Grundzüge. II. 3. Aufl. 26