Volltext: Grundzüge der physiologischen Psychologie, 2. Band, 3.,umgearbeitete Auflage (2)

Geistige Anlagen. 
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das Einzelne zu einem Ganzen zusammenfügt. Auch diese beiden Rich¬ 
tungen der Phantasie bilden aber keineswegs Gegensätze ; vielmehr bietet 
die passive der activen Phantasie das Material dar, aus welchem diese 
ihre Erzeugnisse formt. 
Die passive Phantasie ist fast fortwährend in uns wirksam. Insbe¬ 
sondere ist eine bevorstehende Handlung oder die Zukunft überhaupt ein 
sehr häufiges Object der Phantasiethätigkeit. Zunächst steht die zukünf¬ 
tige Handlung in ihren allgemeinen Umrissen vor uns, dann zerfließt sie 
in ihre einzelnen Acte. Ebenso können wir aber in die vergangene Zeit, 
in Ereignisse, die wir selber erlebt haben, oder über die uns berichtet 
wird, oder selbst in ein ganz imaginäres Geschehen uns hineinphantasiren. 
Noch passiver als in diesen Fällen erscheint endlich die Wirksamkeit der 
Phantasie, wenn man irgend eine zufällig aufgegriffene Vorstellung im 
Bewusstsein festhält, um sie kaleidoskopartig in allerlei phantastische 
Gestaltungen sich entfalten zu lassen, wie solches sehr anschaulich Goethe 
nach seinen Selbstbeobachtungen schildert1). Die passive Phantasie in 
allen diesen Formen wirkt um so lebhafter und unwiderstehlicher, je 
mehr das logische Denken zurücktritt, daher vor allem beim Naturmenschen 
und beim Kinde. Leicht verbindet sie sich dann mit entsprechenden 
äußeren Handlungen, Sprachäußerungen und pantomimischen Bewegungen, 
und oft werden beliebige äußere Objecte benutzt, um, nachdem sie selbst 
durch Assimilation phantastisch umgestaltet sind, den Verlauf der übrigen 
Phantasievorstellungen an sie anzuknüpfen. So benutzt das Kind seine 
Puppe, die Bilder seines Bilderbuches und andere Spielsachen, nicht 
selten aber auch beliebige Objecte, die ihm zur Hand sind, Tische und 
Stühle, Stöcke und Steine. Der Erzieher hat nicht zu übersehen, dass 
alle active Phantasiethätigkeit aus dieser passiven sich entwickeln muss, 
und dass daher vor allem das Spiel, dies hauptsächlichste Erziehungsmittel 
der Phantasie, nicht müssig beschäftigen, sondern das eigene Handeln des 
Kindes herausfordern und üben soll. Auch sind die Gefahren nicht zu 
unterschätzen, welche ein Ueberwuchern der passiven Phantasiethätigkeit 
für das Kind und oft noch für den Erwachsenen mit sich bringt. 
Die active Phantasiethätigkeit liegt jeder Art künstlerischer Schöpfung 
zu Grunde, und in gewissem Grade ist sie an allen andern schöpferischen 
Erzeugnissen des menschlichen Geistes betheiligt, an den Erfindungen der 
Technik so gut wie an den Entdeckungen der Wissenschaft. Bei keiner 
dieser Schöpfungen aber setzt sich das Ganze mosaikartig aus seinen 
Theilen zusammen, sondern es steht zuerst im Bewusstsein: es bildet die 
1) Goethe, Sämmtl. Werke. Ausg. letzter Hand. L, S. 38. Vgl. auch den Schluss 
des neunten Gapitels der Wahlverwandtschaften, XVII, S. 3 02.
	        
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