Geistige Anlagen.
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Diese Hülfsvorstellungen selbst können dunkler bewusst bleiben, es genügt,
dass sie als annähernd constante Begleiter der erinnerten Vorstellung dieser
in ähnlicher Weise eine Stelle in der Zeit anweisen, wie der räumliche
Eindruck durch das ihn begleitende Localzeichen seine Stelle im Raum
erhält. Gerade diese Hülfsvorstellungen aber gehören zum größten Theile
jener constanten Vorstellungsgruppe an, mit der das Selbstbewusstsein
innig verwachsen ist. Denn die genaue Vergegenwärtigung eines früheren
Erlebnisses wird bekanntlich zumeist durch die Erinnerung an die näheren
Umstände unterstützt, in denen wir uns zurZeit des Erlebnisses befunden
haben.
Bei der bald als bleibende Anlage bald vorübergehend oder als nor¬
male Alterserscheinung vorkommenden Schwäche des Gedächtnisses
können hiernach schon nach ihren allgemeinen Bedingungen verschiedene
Seiten der Gedächtnissfunction verändert sein. Entweder kann dieselbe
auf mangelhafter oder für zahlreiche Vorstellungen gänzlich fehlender Er¬
neuerung der Vorstellungen beruhen, oder es kann zwar die Reproduction
von statten gehen, aber der Erinnerungsact, die Beziehung der Vorstel¬
lungen auf frühere FAlebnisse des eigenen Bewusstseins, kann mehr oder
weniger gestört sein. Der erste Fall bedingt die Erscheinungen der ge¬
wöhnlichen Gedächtnissschwäche, im zweiten Fall entstehen die Erschei¬
nungen der so genannten Unbesinnlichkeit, die außerdem mit
Gedachtnisstäuschungen sich verbinden können. Innerhalb dieser
Hauptformen der Störung können dann noch mannigfache Unterformen
entstehen, die in besonders augenfälliger Weise in den verschiedenen Stö¬
rungen des Sprachgedächtnisses ihren Ausdruck finden und bereits früher,
bei Besprechung der physiologischen Grundlagen der Sprachfunction, er¬
örtert worden sind1).
Die Phantasie wird von denvGedächtnisse gewöhnlich als diejenige
Eigenschaft unterschieden, vermöge deren'wir Vorstellungen in veränderter
Anordnung reproduciren können. Doch diese Begriffsbestimmung ist eine
durchaus unzureichende. Es ist zwar richtig, dass die Phantasie die
Elemente, aus denen sie ihre Verbindungen bildet, dem Schatz des Ge¬
dächtnisses entnehmen muss; aber bei den Functionen, die wir noch
ganz und gar auf das letztere beziehen, fehlt es keineswegs an verän¬
derten Anordnungen der Vorstellungen, ja vielleicht keine einzige Repro¬
duction liefert uns das früher Erlebte ohne jede Veränderung. Das unter¬
scheidende Kennzeichen der Phantasiethätigkeit liegt vielmehr in der Art
1) Vergl. Abschn. I, Cap. IV und V, S. 170, 238 ff. Eine eingehende Uebersicht
der allgemeinen Gedächtnisstörungen, gestützt auf zahlreiche Fälle der medicinischen
Literatur, gibt Ribot, Les maladies de la mémoire, Chap. II—IV.