Räumliche Tastwahrnehmungen.
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3. Räumliche Tastwahrnehmungen.
Auf der Localisation der Tastempfindungen beruht unmittelbar die
Fähigkeit des Tastorgans, räumliche Vorstellungen von der Gestalt der
berührenden Objecte zu vermitteln. Die verschiedenen Gebiete der Haut¬
oberfläche unterscheiden sich daher in der letzteren Beziehung ganz
ebenso wie in Bezug auf ihre Localisationsschärfe. Schneidet man z. B.
aus Pappe eine größere Zahl kreisförmiger und quadratischer Scheiben
von verschiedener Größe, so findet man, dass dieselben bei einem um so
kleineren Durchmesser unterschieden werden, je feiner die Ortsempfind¬
lichkeit der betreffenden Hautstelle ist. Alle diese räumlichen Wahrneh¬
mungen bleiben jedoch verhältnissmäßig sehr unvollkommen, so lange die
Eindrücke das ruhende Tastorgan berühren. Eine genaue Auffassung ihrer
Form ist in solchem Falle kaum möglich, und selbst eine räumliche einfache
Entfernung, wie z. B. die Distanz berührender Cirkelspitzen, wird in Bezug
auf ihre absolute Größe sehr unsicher bestimmt: im Vergleich mit der Ge¬
sichtsvorstellung erscheint das Tastbild in diesem Falle stets erheblich ver¬
kleinert, wie man sich überzeugt, wenn man nach dem Tasteindruck
die scheinbar gleiche Distanz an einem Gesichtsobject herstellen lässt.
Außerdem aber ist eine solche Auffassung absoluter Entfernungen im Tast¬
felde, abgesehen von den oben erwähnten Einflüssen auf die Größe der
Empfindungskreise, noch von mannigfachen physiologischen und psycholo¬
gischen Bedingungen abhängig. So erscheint eine und dieselbe Distanz
bei stärkerer Berührung größer als bei schwacher Berührung; ein un¬
mittelbar vorangegangener Eindruck verändert den ihm nachfolgenden
durch Contrast : er lässt ihn, wenn er kleiner ist, kleiner, wenn er größer
ist, größer erscheinen, als er ohne den vorangegangenen contrastirenden
Eindruck erscheinen würde.[)
Die Auffassung sowohl der räumlichen Entfernungen der Eindrücke wie
der Form berührender Objecte gewinnt wesentlich an Schärfe und Sicher¬
heit, wenn wir die Theile bewegen. Dabei bietet zugleich die Bewe¬
gung den Vortheil dar, dass sie es gestattet die Hautstellen von der
größten Localisationsschärfe, wie die Fingerspitzen, successiv mit den ein¬
zelnen Theilen eines ausgedehnten Objectes in Berührung zu bringen.
Vorzugsweise zum Zweck der Gestaltenwahrnehmung werden daher jene
Tastbewegungen verwendet, mit deren Hülfe der Blinde einen gewissen
1) Wundt, Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, S. 35 ff. Der zuletzt er¬
wähnte successive Contrast ist auch von Camerer bestätigt worden (Zeitschr. f. Biol.,
XIX, S. 281). Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch ein simultaner Contrast vor¬
kommt, welcher dann wohl in einem wechselseitigen Einfluss der Distanzen be¬
stehen wird.
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