Volltext: Grundzüge der physiologischen Psychologie, 2. Band, 3.,umgearbeitete Auflage (2)

Aufmerksamkeit und Wille. 
241 
bild schließlich die Lebendigkeit eines Phantasma erreicht1). Es bedarf 
aber stets einer ziemlich bedeutenden Zeit, um die Innervation so weit 
anwachsen zu lassen, und man bemerkt dabei deutlich ein zunehmendes 
Spannungsgefühl. Diese Beobachtungen machen es zweifellos, dass die 
Richtung der Aufmerksamkeit auf Wahrnehmungen wie auf Erinnerungs¬ 
bilder allgemein auf einer vom Willen ausgehenden Innervation beruht, 
durch welche gleichzeitig die einem bestimmten Sinnesgebiet zugehörigen 
Muskeln erregt und die entsprechenden sinnlichen Empfindungen ausgelöst 
werden. Dabei entspricht zugleich die Art der Muskelerregung der Form 
der appercipirten Vorstellung. So richten sich die eine Gesichtsvorstellung 
begleitenden Bewegungsempfindungen des Auges nach den Hauptbegren¬ 
zungslinien des Gegenstandes, bei hohen und tiefen Tönen wechselt die 
Innervation des Trommelfellspanners und nicht selten auch die gleichzeitige 
Bewegung der Kehlkopfmuskeln, u. s. w. Keiner dieser beiden sinnlichen 
Bestandteile der Apperception, weder der sensorische noch der motori¬ 
sche, lässt sich mit Bestimmtheit als der primäre nachweisen, sondern 
beide erscheinen als unmittelbar an einander gebundene, aber allerdings 
zugleich als wechselseitig sich verstärkende Elemente. Einerseits muss 
wohl eine gewisse sensorische Erregung schon vorhanden sein, damit 
die motorische Innervation ausgelöst werden könne; anderseits aber übt 
diese wieder durch die mit der motorischen Erregung innig associirte 
Bewegungsempfindung einen eminent verstärkenden Einfluss auf die erstere, 
namentlich bei Erinnerungsbildern, bei denen diese Bewegungsempfindung 
der einzige Bestandteil des ganzen Empfindungscomplexes ist, der nicht 
bloß durch centrale Erregungen, sondern auch durch peripherisch ent¬ 
stehende Reize, nämlich eben durch die in Folge der centralen Innervation 
hervorgerufenen Muskelspannungen verstärkt werden kann. Hierdurch 
erklärt es sich, dass lebendige Erinnerungsbilder nur mit Hülfe deutlicher 
ihnen associirter Bewegungen der Sinnesorgane erweckt werden können. 
Gleichwohl darf aus dieser Thatsache nicht geschlossen werden, dass die 
Bewegungsinnervation selbst die letzte Ursache für das Auftreten solcher 
Erinnerungsbilder im Bewusstsein überhaupt sei ; denn jene Muskelinner¬ 
vation setzt immerhin einen vorangehenden Impuls voraus, der von einer 
Empfindung des entsprechenden Sinnesgebietes ausgehen muss. So sehr 
z. B. eine zunehmende Convergenzbewegung der Gesichtslinien das Erinne¬ 
rungsbild eines dem Auge sich nähernden Gegenstandes begünstigen mag, 
der Impuls zu jener Convergenzbewegung ist doch selbst erst durch das 
im Bewusstsein aufsteigende Bild des Gegenstandes entstanden. Wohl 
1) H. Meyer, Untersuchungen über die Physiologie der Nervenfaser, S. 237 ff. 
Vgl. auch G. E. Müller, Zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit. Inaug.-Diss. 
Leipzig 1873, S. 46 ff. 
Wundt, Grundzüge. II. 3. Aufl. 
16
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.