Aufmerksamkeit und Wille.
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bild schließlich die Lebendigkeit eines Phantasma erreicht1). Es bedarf
aber stets einer ziemlich bedeutenden Zeit, um die Innervation so weit
anwachsen zu lassen, und man bemerkt dabei deutlich ein zunehmendes
Spannungsgefühl. Diese Beobachtungen machen es zweifellos, dass die
Richtung der Aufmerksamkeit auf Wahrnehmungen wie auf Erinnerungs¬
bilder allgemein auf einer vom Willen ausgehenden Innervation beruht,
durch welche gleichzeitig die einem bestimmten Sinnesgebiet zugehörigen
Muskeln erregt und die entsprechenden sinnlichen Empfindungen ausgelöst
werden. Dabei entspricht zugleich die Art der Muskelerregung der Form
der appercipirten Vorstellung. So richten sich die eine Gesichtsvorstellung
begleitenden Bewegungsempfindungen des Auges nach den Hauptbegren¬
zungslinien des Gegenstandes, bei hohen und tiefen Tönen wechselt die
Innervation des Trommelfellspanners und nicht selten auch die gleichzeitige
Bewegung der Kehlkopfmuskeln, u. s. w. Keiner dieser beiden sinnlichen
Bestandteile der Apperception, weder der sensorische noch der motori¬
sche, lässt sich mit Bestimmtheit als der primäre nachweisen, sondern
beide erscheinen als unmittelbar an einander gebundene, aber allerdings
zugleich als wechselseitig sich verstärkende Elemente. Einerseits muss
wohl eine gewisse sensorische Erregung schon vorhanden sein, damit
die motorische Innervation ausgelöst werden könne; anderseits aber übt
diese wieder durch die mit der motorischen Erregung innig associirte
Bewegungsempfindung einen eminent verstärkenden Einfluss auf die erstere,
namentlich bei Erinnerungsbildern, bei denen diese Bewegungsempfindung
der einzige Bestandteil des ganzen Empfindungscomplexes ist, der nicht
bloß durch centrale Erregungen, sondern auch durch peripherisch ent¬
stehende Reize, nämlich eben durch die in Folge der centralen Innervation
hervorgerufenen Muskelspannungen verstärkt werden kann. Hierdurch
erklärt es sich, dass lebendige Erinnerungsbilder nur mit Hülfe deutlicher
ihnen associirter Bewegungen der Sinnesorgane erweckt werden können.
Gleichwohl darf aus dieser Thatsache nicht geschlossen werden, dass die
Bewegungsinnervation selbst die letzte Ursache für das Auftreten solcher
Erinnerungsbilder im Bewusstsein überhaupt sei ; denn jene Muskelinner¬
vation setzt immerhin einen vorangehenden Impuls voraus, der von einer
Empfindung des entsprechenden Sinnesgebietes ausgehen muss. So sehr
z. B. eine zunehmende Convergenzbewegung der Gesichtslinien das Erinne¬
rungsbild eines dem Auge sich nähernden Gegenstandes begünstigen mag,
der Impuls zu jener Convergenzbewegung ist doch selbst erst durch das
im Bewusstsein aufsteigende Bild des Gegenstandes entstanden. Wohl
1) H. Meyer, Untersuchungen über die Physiologie der Nervenfaser, S. 237 ff.
Vgl. auch G. E. Müller, Zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit. Inaug.-Diss.
Leipzig 1873, S. 46 ff.
Wundt, Grundzüge. II. 3. Aufl.
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