Volltext: Grundzüge der physiologischen Psychologie, 2. Band, 3.,umgearbeitete Auflage (2)

Aesthetische Wirkung der Gestalten. 217 
tischen Auffassung der Menschengestalt und der Pflanzen- und Thierformen 
die Wiederholung homologer Theile beitragen, welche innerhalb der 
verticalen Gliederung eine Symmetrie zusammengesetzterer Art hervor¬ 
bringt. Ober- und Vorderarm, Ober- und Unterschenkel, Arme und Beine, 
Hände und Füße, Hals und Taille, Brust und Bauch treten uns sogleich 
als formverwandte Theile entgegen. In den Armen und Händen wieder¬ 
holen sich in feinerer und vollkommenerer Form die Beine und Füße. 
Die Brust wiederholt in gleicher Art die Form des Bauches. Indem sich 
dieser nach unten zur Hüfte, jene nach oben zum Schultergürtel erweitert, 
den beiden Stützapparaten der Extremitätenpaare, vollendet sich die Sym¬ 
metrie der homologen Gebilde. Während aber alle andern Theile zweimal 
in der verticalen Gliederung der Gestalt uns begegnen, in einer unteren 
massiveren und in einer oberen leichteren Form, ist auf jene beiden Glieder 
des Rumpfes noch das Haupt gefügt, welches als der entwickeltste und allein 
in keinem anderen homologen Organ vorgebildete Theil das Ganze abschließt. 
Aehnliche Betrachtungen lassen sich an jede eindrucksvollere Thier- und 
Pflanzenform anknüpfen. Sie ergeben, dass die ästhetische Wirkung organi¬ 
scher Gestalten vorzugsweise von einer Symmetrie in der Wiederholung ho¬ 
mologer Theile und von der Vervollkommnung abhängt, die sich hierbei gleich¬ 
zeitig in dem Aufbau der Formen zu erkennen gibt. Geht man von hier aus 
zur Anschauung landschaftlicher Schönheiten oder der Werke der bildenden 
Kunst über, so gilt zwar für diese ebenfalls im allgemeinen die Regel, 
dass sich die Verhältnisse der Dimensionen und ihrer Theile von der Ein¬ 
tönigkeit der vollständigen Symmetrie und der Grenze incommensurabler 
Proportionen gleich weit entfernen. Es ist daher begreiflich, dass man, 
weil zudem in der Wahl der Eintheilungspunkte einige Freiheit besteht, 
eine Regel leicht bestätigt finden kann, die, wie der goldene Schnitt, diese 
Mitte einhält. Doch der formale Grund des Gefallens liegt offenbar wieder 
viel weniger in solchen abstracten Maßgesetzen als in jener höheren Sym¬ 
metrie, welche die freie Wiederholung homologer Formen mit sich führt. Die 
Meisterwerke der bildenden Kunst zeigen darin eine Verwandtschaft mit der 
Schönheit organischer Naturformen, namentlich der menschlichen Gestalt, 
dass sie von unten nach oben vervollkommnend sich aufbauen und einem 
das Ganze beherrschenden Theil zustreben. In der That ist nun diese Art 
der Schönheit der organischen Natur und des Kunstwerkes, die in der 
Wiederholung und Veredlung ähnlicher Formen besteht, der Schönheit des 
geometrisch Regelmäßigen unendlich überlegen. Ueber den Grund dieses 
Unterschieds geben uns aber schon die Erfahrungen an dem geometrisch 
Regelmäßigen einigermaßen Rechenschaft. Dem einfachen ziehen wir den 
in Sectoren getheilten Kreis, und so überhaupt dem einfach Symmetri¬ 
schen das mannigfaltig Gegliederte vor. Auch die Musik bietet nahe
	        
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