Volltext: Grundzüge der physiologischen Psychologie, 2. Band, 3.,umgearbeitete Auflage (2)

Aesthetisclie Wirkung der Gestalten. 
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Ohne Mühe verfolgt, wie wir sahen, das Auge von seiner Primärstellung 
egen Punktdistanzen durcheilt 
werden, so bewegt sich dasselbe schon von der Primärstellung und noch 
ans gerade Linien im Sehfeld. Wenn da 
mehr von andern Stellungen aus in Bogenlinien von schwacher Krümmung. 
Wir dürfen hieraus schließen, dass die schwach gekrümmte Bogenlinie 
die Linie der ungezwungensten Bewegung für das Auge ist1). So sehr 
daher auch die Bewegungen nach dem LisuNG’schen Gesetze bei der Be¬ 
trachtung naher Objecte für das Auge vorteilhaft sein mögen, so sind 
doch jene gekrümmten Bewegungen, welche vermöge der bloß angenäherten 
Gültigkeit dieses Gesetzes stattfinden, bei der freien Auffassung entfern¬ 
terer Naturgegenstände die sinnlich angenehmeren. Wir empfinden es 
z. B. an architektonischen Werken von größerer Ausdehnung entschieden 
missfällig, wenn unser Auge gezwungen wird, ausschließlich geraden Linien 
nachzugehen; namentlich aber ist der plötzliche Uebergang zwischen Ge¬ 
raden von verschiedener Richtung dem Auge peinlich, und wir lieben 
daher in solchen Fällen die Vermittlung durch die sanft geschwungene 
Bogenlinie. Diese Bedeutung gekrümmter Conturen für die Wohlgefällig¬ 
keit des Eindrucks ist längst anerkannt; verfehlt aber ist der Versuch 
eine absolute Schönheitscurve zu finden, wie ihn z. B. Hogarth gemacht 
hat, da Grad und Form der wohlgefälligen Krümmungen sich nach den 
sonstigen Eigenschaften der Objecte richten. Nur dies eine lässt sich all¬ 
gemeingültig aussagen, dass jede Curve missfällt, welche dem Auge allzu 
stark gekrümmte oder allzu lange im |selben Sinn gekrümmte Curven dar¬ 
bietet. Im letzteren Fall ziehen wir, um dem Auge einen zwischenliegenden 
Ruhepunkt zu bieten, einen Wechsel der Krümmung vor2). 
Nächstdem schließt der Lauf der Begrenzungslinien alle diejenigen 
Momente ein, welche wir als die Bedingungen der Perspective bereits 
kennen lernten. Indem wir von frühe an gewohnt sind bestimmte An¬ 
ordnungen der Conturen auf bestimmte Verhältnisse der Tiefenentfernung 
zu beziehen, empfinden wir jede Abweichung missfällig, welche einer 
solchen Deutung widerstreitet. Dabei ist freilich zugleich unsere Kennt- 
niss der objectiven Formverhältnisse nicht ganz ohne Einfluss geblieben 
auf die ästhetische Auffassung. Wir wdssen, dass gewisse Linien, wie 
z. B. die horizontalen Conturen eines Gebälks oder die verticalen einer 
Säule, geradlinig sind; wir haben uns daher gewöhnt die Krümmungen, 
die vermöge der .Bewegungsgesetze des Auges in solchen Fällen lang¬ 
gestreckte gerade Linien zeigen müssen, zu übersehen, und wir gestatten 
demzufolge auch dem bildenden Künstler bei der Herstellung oder Nach- 
1) Wundt , Beiträge zur Theorie der Sinneswalirnehmung, S. 139 ff. S. oben 
S. 102 Anm. 
2) Vgl. hierüber J. Sully, Rev. philos. 1 880, p. 499. (Mind, April 1 880.)
	        
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