Volltext: Grundzüge der physiologischen Psychologie, 2. Band, 3.,umgearbeitete Auflage (2)

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Gesichtsvorstellungen. 
Centralorgane zugleich psychophysische Dispositionen gegeben sind, welche eine 
wesentlich abgekürzte Entstehung der individuellen Vorstellungen zulassen. 
Von den Anhängern der empiristischen Theorie sind als besonders schla¬ 
gende Zeugnisse für die Entstehung der Gesichtswahrnehmungen durch Erfah¬ 
rung noch die Beobachtungen an operirten Blindgeborenen angesehen 
worden. Die älteren Autoren pflegen großenteils rein theoretisch die Frage 
zu erörtern, wie die Wahrnehmungen eines von Geburt an Erblindeten, dem 
plötzlich das Augenlicht gegeben werde, beschaffen sein mochten1). Beobach¬ 
tungen über solche Fälle sind namentlich von Cheselden2), Wardrop3), Franz4) 
und in neuerer Zeit von Trinchinetti5), Hirschberg6) und von Hippel7) be¬ 
schrieben'worden. Dabei kommt jedoch in Betracht, dass mit Ausnahme des 
einen der von Wardrop mitgetheilten Fälle es sich nur um Staarkranke handelt, 
bei denen die Unterscheidung von Hell und Dunkel und ein Urtheil über die 
Bichtung des Lichtes schon vor der Operation möglich war. In dem einen 
Fall von Wardrop, in welchem eine Verwachsung der Iris getrennt werden 
musste, war dagegen wohl nur eine sehr unvollkommene Unterscheidung von 
Hell und Dunkel vorhanden. Alle Berichte stimmen nun darin überein, dass die 
Operirten ein Urtheil über die Entfernung der Gegenstände nicht besitzen, und 
dass sie die Große und Form derselben nur sehr unvollkommen auffassen, letzteres 
namentlich dann, wenn Erhabenheiten und Vertiefungen Vorkommen. Ein Ge¬ 
mälde erscheint ihnen anfänglich wie eine bunt bemalte Fläche; erst allmählich 
lernen sie die Bedeutung der Schattirung und Perspective verstehen. Dem 
Operirten des Dr. Franz erschienen entfernte Gegenstände so nah, dass er sich 
fürchtete an sie anzustoßen. Einfache Formen, wie Vierecke und Kreise, er¬ 
kannte er zwar ohne Betastung, aber er musste erst über sie nachdenken, 
wobei er angab, dass er gleichzeitig ein gewisses Gefühl in den Fingerspitzen 
(ohne Zweifel reproducirte Tastempfindungen) zu Rathe ziehe. Die von War¬ 
drop operirte Dame, deren Blindheit vollständiger gewesen war, konnte einen 
Schlüssel und einen silbernen Bleistifthalter, die sie durch Betasten deutlich 
erkannt hatte, mit dem Gesicht nicht unterscheiden. Offenbar sind in allen 
diesen Fällen jene Bestandtheile der monocularen Gesichtswahrnehmung, welche 
auf loseren Associationen beruhen (S. 195), unvollkommen oder gar nicht aus¬ 
gebildet. Ebenso zweifellos geht aber auch aus den Beschreibungen hervor, 
dass alle Operirten, selbst die Dame von Dr. Wardrop, die Eindrücke in räum¬ 
licher Ordnung auffassten und in Bezug auf ihre Richtung unterschieden. Die 
Verlegenheit oder sogar das Unvermögen die Gestalt der Objecte anzugeben 
darf in dieser Beziehung nicht irre machen. Der Operirte hat bisher seine 
Vorstellungen nach den Eindrücken des Tastsinns geordnet. Um eine durch 
1) Vgl. Locke, Human understanding, II, 9, §8. Berkeley, Theory of vision, 1 709, 
§ 4t, p. 255. Diderot, Lettres sur les aveugles, 4749. Oeuvres. Londres t 773, III, 
p. 115. Condillac’s ganzer Traité des sensations ist auf ähnliche Betrachtungen ge¬ 
gründet. 
2) Phil. Transact. 1 728, XXXV, p. 447. Vgl. Helmholtz, Physiol. Optik, S. 587. 
3) History of James Mitchell a boy born blind and deaf. London 1813. Phil, 
transact. 1826, III, p. 529. Helmholtz a. a. O. S. 588. 
4) Phil. Mag., XIX, 1841, p. 156. 
5) Arcln des sciences phys. de Genève, VI, p. 336. 
6) Archiv f. Ophthalmologie, XXI, 1. S. 23. 
7) Ebend. XXI, 2. S. 101.
	        
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