Psychologische Entwicklung der Gesichtsvorstellungen.
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Ordnung so deducirt werden könne, dass sie demjenigen, der sie nicht schon
besitzt, anschaulich oder auch nur verständlich würde. Eine Theorie, die
das letztere zu erreichen meinte, würde in der That Unmögliches erstreben.
Aber nicht darum handelt es sich hier, den Raum durch eine zwingende
Deduction zu construiren, was logisch wie psychologisch natürlich nicht
ausführbar ist, wenn man die Anschauung desselben nicht vorher schon
hat, sondern darum, die elementaren Bedingungen nachzuweisen, die bei
der Bildung der räumlichen Gesichtsvorstellungen thatsächlich wirksam sind,
und die Beziehungen zu untersuchen, die zwischen den Eigenschaften dieser
Elemente und den Eigenschaften des Raums existiren. In ersterer Beziehung
erweist sich aber gerade bei der Gesichtswahrnehmung der doppelte Einfluss
der Empfindungsqualitäten der Netzhaut und der Bewegungen des Auges als
ein so ausgesprochener, dass keine Theorie ihrer Aufgabe genügt, wenn sie
nicht diesen beiden Einflüssen ihre Stellen einräumt. Dies vorausgesetzt, ist
dann die Rückbeziehung der mehrfachen Ausdehnung des Systèmes der Lo¬
calzeichen auf die mehrfache Ausdehnung des Raumes und anderseits der
gleichförmigen Intensitätsabstufung der Bewegungsempfindungen auf die
Gleichartigkeit der räumlichen Dimensionen ein naheliegender Gedanke, der
nicht von dem Ansprüche den Raum erzeugen zu wollen, sondern lediglich
von der Voraussetzung ausgeht, dass auch auf psychischem Gebiet die Eigen¬
schaften eines Productes Beziehungen darbieten müssen zu den Eigenschaften
der Factoren, die bei der Entstehung desselben wirksam sind1).
Neben denjenigen Elementen, welche die ursprüngliche Synthese der
Empfindungen erzeugen, sehen wir endlich die Gesichtsvorstellung noch
von einer Reihe anderer Einflüsse abhängig, die sich schon durch ihren
späteren Eintritt im Laufe des Lebens sowie durch größere Wandelbarkeit
als Bestimmungsgründe secundärer Art verrathen. Hierher gehören die
Einflüsse der Perspective und Luftperspective, zufällig oder absichtlich
wachgerufener Vorstellungen u. dergl. In allen diesen Fällen handelt es
sich um eine Veränderung der Vorstellung durch losere und darum wech¬
selndere Associationen. So ist es ein deutlicher Fall solcher Associationen,
wenn wir in Fig. 182 S. 174 die an sich zweideutige Zeichnung nach dem
Hinzufügen einer die Stufen hinaufsteigenden menschlichen Figur als Treppe
auffassen. Die ursprüngliche Synthese enthält hier noch gar keine körper¬
liche Vorstellung. Jener folgend müssten wir die Zeichnung als das auf¬
fassen was sie ist, als eine Zeichnung in der Ebene. Führen wir aber
keine feste Association ein, wie dies durch Hinzufügung des hinauf¬
steigenden Menschen geschieht, so knüpfen sich an ein derartiges Bild
unwillkürlich Associationen mit verschiedenen früher gehabten Vorstellun-
\ ) Ygl. hierzu die Bemerkungen auf S. 40 f.
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