Volltext: Grundzüge der physiologischen Psychologie, 2. Band, 3.,umgearbeitete Auflage (2)

Binoculare Gesichtswahrnehmungen. 
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ab. Denkt man sich dagegen auf dem Fußboden in der Medianebene 
des Körpers eine gerade Linie gezogen, so liegen die Bilder derselben 
nicht auf identischen Stellen, sie schneiden nicht einander parallel die 
Netzhautcentren, sondern sie convergiren nach oben. Da wir nun trotz¬ 
dem die Objecte zu misera Füßen in der Regel einfach sehen, so ver- 
muthete Helmholtz [), dass die früher (S. 123) hervorgehobenen Täuschungen 
über die Richtung verticaler Linien hier von Bedeutung seien, weil die 
Neigung, welche eine scheinbar verticale Linie in ihrem Netzhautbilde hat, 
nicht nur dem Sinne, sondern häufig auch der Größe nach ungefähr die¬ 
selbe ist, wie sie dem Bild einer auf dem Fußboden gezogenen geraden 
Linie entspricht. Bei convergenten und etwas nach abwärts geneigten 
Blicklinien dagegen, bei welchen, wie wir früher (S. 106) sahen, Bollungen 
um die Blicklinie eintreten, die nicht mehr dem LisTiNG’schen Gesetze fol¬ 
gen, entspricht, wie Dovders ermittelte, die Fläche, für welche die In- 
congruenz der Netzhäute verschwindet, in der Regel annähernd derjenigen 
Ebene, in welcher sich die Gegenstände unserer gewöhnlichen Beschäfti¬ 
gung beim Nahesehen befinden, in welcher man z. B. beim Lesen das Buch 
zu halten pflegt* 2). In dieser Ebene der aufgehobenen Incongruenz werden 
Linien von jeder Richtung binocular einfach gesehen; sie ist, wahrschein¬ 
lich in Folge wechselnder Gewohnheiten, individuell etwas veränderlich, 
bewahrt aber stets eine zur abwärts geneigten Blickebene nicht vollkom¬ 
men senkrechte sondern etwas nach hinten abweichende Richtung. Die 
zugehörige Lage der Blickebene weicht bei den meisten Individuen er¬ 
heblich ab von der vorzugsweise durch die Bewegungsgesetze bei paral¬ 
lelen Blicklinien ausgezeichneten Primärstellung (S. 100), und zwar liegt sie 
tiefer als die letztere. Wegen dieses Verhältnisses hat Donders jene von 
dieser als die Primärstellung für Convergenz unterschieden. Wie 
nun je nach individueller Gewohnheit und Beschäftigung bald parallele 
bald convergirende Blickbewegungen überwiegen, so ist es auch wahr¬ 
scheinlich, dass bei gewissen Individuen das Sehen mit horizontaler bei 
andern das Sehen mit geneigter Blickebene vorzugsweise die Lage der 
correspondirenden Netzhautmeridiane bestimmt hat. Darum ist dem Um¬ 
stande, dass man in vielen Fällen den Betrag der Netzhautincongruenz der 
Voraussetzung, wonach sie durch die Bodenebene bestimmt sei, nicht ent¬ 
sprechend fand3), wohl kein entscheidender Werth beizulegen, um so mehr, 
da die früher S. 122) hervorgehobene Variabilität in der Lage der verti- 
calen Netzhautmeridiane hier kaum einen sicheren Beweis zulässt. Noch 
ist endlich zu bemerken, dass alle diese Versuche, die Incongruenz der 
]) Physiologische Optik, S. 715. 
2] Donders, Pflüger’s Archiv, XIII, S. 373. 
3) Donders a. a. O. S. 405. 
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