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Gesichtsvorstellungen.
Es gibt freilich Thiere, bei denen sogleich nach der Geburt Gesichtsvor¬
stellungen vorhanden scheinen. Aber der centrale Mechanismus der Inner¬
vation ist schon in dem Embryo angelegt. Wenn also zwischen ihm und
der Bildung der Wahrnehmungen ein Causalverhältniss existirt, wie nicht
zu verkennen, so müssen bei der individuellen Entwicklung die Gesetze
der Innervation das Bedingende, die Vorstellungen das Bedingte sein. Da¬
gegen ist es allerdings wahrscheinlich, dass bei der Entwicklung der Art
umgekehrt die centralen Vorrichtungen für die Innervation des Doppelauges
unter der Leitung der Gesichtsw7ahrnehmungen sich ausgebildet haben.
Bei den meisten Thieren sind, wie schon J. Müller1) bemerkt hat, die
beiden Augen in functioneller Beziehung unabhängiger von einander als
beim Menschen, weil ihnen ein gemeinsames Gesichtsfeld fehlt, oder weil
dasselbe von beschränkterer Ausdehnung ist. Thiere mit vollkommen seit¬
lich gestellten Augen sehen daher auch nicht gleichzeitig mit beiden, son¬
dern abwechselnd mit dem einen und andern. Deshalb sind hier die
Augen in Bezug auf ihre motorische Innervation unabhängiger von ein¬
ander2). In der Entwicklung der Art werden also erst mit der Ausbildung
eines gemeinsamen Gesichtsfeldes die centralen Vorrichtungen zu gemein¬
samer Innervation entstanden sein. Diese Vorrichtungen haben nun, wie
der Einfluss der Lichteindrücke auf die Bewegungen des Auges lehrt, die
nächste Aehnlichkeit mit den Apparaten, w'elche die gewöhnliche Reflex¬
bewegung beherrschen; sie sind aber mit einer viel genaueren Regulation
verbunden als der gewöhnliche Reflexmechanismus des Rückenmarks. Die
Beobachtung zeigt nämlich, dass von jedem Lichteindruck ein gewisser
Antrieb zur Bewegung des Auges ausgeht. Es bedarf bekanntlich be¬
sonderer Anstrengung und Uebung, einen imaginären Blickpunkt zu
wählen, d. h. einen solchen, dem kein reeller Objectpunkt entspricht.
Zwischen den Netzhauteindrücken und der Blickbewegung muss also eine
Beziehung bestehen, welche dem Reflex verwandt ist. In der That han¬
delt es sich hier offenbar um einen jener complicirten Reflexvorgänge, als
deren Centren wir die Hirnganglien, namentlich Seh- und Vierhügel, er¬
kannt haben. Die nächste Analogie hat diese Lenkung der Augenbewe¬
gungen durch die Lichteindrücke mit der Beziehung der Ortsbewegungen
zu den Tastempfindungen. Nur scheint beim Auge die Verbindung eine
noch festere, darum dem einfachen Reflex verwandtere zu sein, ähnlich
wie auch die bilaterale Symmetrie der Bewegungen strenger eingehalten
ist als an den Organen der Ortsbewegung. Man gebe dem Doppelauge
1) A. a. O. S. 99 f.
2) Dies lässt sich z. B. sehr deutlich am Chamäleon wegen seiner hervorstehenden
Augen beobachten: während sich das eine nach oben oder vorn wendet, kann das
andere nach unten oder hinten gerichtet sein, u. s. w.