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Gefühlston der Empfindung.
die geradzahligen Obertöne hervorgehoben, so entsteht eine eigentümlich leere
und klimpernde Klangfarbe. Beiden Arten von Klängen, denen mit ungerad-
zahligen wie denen mit geradzahligen Obertönen, scheint etwas zu fehlen, wenn
man sie mit dem vollen, abgerundeten Klang solcher Instrumente vergleicht, dieT
wie z. B. die Zungenpfeifen der Orgel, alle Obertöne in mit ihrer Höhe abneh¬
mender Stärke hervorbringen, daher auch solche in ihrer Klangfarbe einseitige
Instrumente hauptsächlich in der Orchestermusik zur Anwendung kommen, wo
sie in begleitenden Klängen anderer Färbung ihre Ergänzung finden. Nicht
minder ungenügend erscheint uns die Wirkung jener musikalischen Klänge,
denen alle Obertöne fehlen, die also dem reinen Ton sich annähern, wie
dies z. ß. bei den Klängen der Labialpfeifen der Orgel und der Flöte der Fall ist* 1).
Solche Klänge eignen sich zwar durch ihre gleichmäßige Ruhe mehr als alle
andern zur sinnlichen Grundlage einfacher Schönheit, aber es fehlt ihnen durchaus
die Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, die eine wesentliche Bedingung ästhetischer
Wirkung ist2). Die ruhige Befriedigung des einfach Schönen kommt da erst zur
vollen Geltung, wo sich solche aus dem Widerstreit mannigfacher Gemüths-
bewegungen entwickelt. Hierin liegt wohl das Geheimniss der Thatsache, dass
bei allen Instrumenten mit scharf ausgesprochener Klangfarbe das Solospiel seinen
größten Erfolg dann erringt, wenn es ihm gelingt die Klangfarbe fast ganz zu
überwinden, indem es dem widerstrebenden Werkzeug die Reinheit des ein¬
fachen Tons entlockt. Aber der Zauber des Spiels verschwindet sogleich, wenn,
wie bei der Flöte, das Instrument von selbst und in unveränderlicher Weise
die einfachen Töne hervorbringt. Die Alten scheinen in dieser Beziehung an¬
ders gefühlt zu haben als die Neueren: ihnen, denen die Flöte das preiswür¬
digste Instrument schien, war auch hier das einfach Schöne für sich genug;
wir verlangen, dass es sich erst aus dem Conflict widerstrebender Gefühle
herausarbeitet ; den Neueren gilt daher die Violine als die Königin der Instru¬
mente. Bei ihr treffen alle Bedingungen zusammen, um sie zum Ausdrucks¬
mittel der mannigfachsten Stimmungen zu befähigen: ein bedeutender Umfang
der Tonhöhen, die größte Abstufung der Klangstärke verbunden mit der Mög¬
lichkeit den Ton langsam oder rasch an- und abschwellen zu lassen, endlich
die verschiedensten Schattirungen der Klangfärbung je nach Ort und Art des
Anstrichs. Kein Instrument folgt so unmittelbar wie sie der Gemüthsbewegung
des vollendeten Spielers. Nicht den kleinsten Theil an der Schätzung dieses
Instrumentes hat aber die Schwierigkeit, ihren Saiten in vollkommener Reinheit
den einfachen Ton zu entlocken, bei welchem unser Gefühl befriedigt zu
ruhen strebt.
Der Gefühlston der Lichtempfindungen ist theils vom Farbenton
theils von der Lichtstärke und Sättigung abhängig. Hiernach bilden die
Qualitäten des Gefühls eine Mannigfaltigkeit, welche sich in einer durchaus
bei den tiefsten Tönen werden mehr die Obertöne gehoben. (Vgl. Zamminer, Die Musik
und die musikalischen Instrumente. Gießen 1 855, S. 12, 36.)
1) Helmholtz, Tonempfindungen, 3. Aufl., S. 321.
2) Natürlich schließt dies nicht aus, dass solche reine obertonfreie Klänge für
einzelne musikalische Zwecke in bevorzugter Weise geeignet sein können. Zumeist
ist es dann gerade der Gegensatz zu den volleren Klängen, dem sie, als Symbole voll¬
endeter Reinheit der seelischen Stimmungen, ihre Wirkung verdanken.