Volltext: Grundzüge der physiologischen Psychologie, 1. Band, 3.,umgearbeitete Auflage (1)

408 
Qualität der Empfindung. 
größere Hautfläche ausbreitet, bald an ganz entlegenen Stellen ähnliche 
schwache Tastempfindungen hervorruft. Jede einzelne dieser Empfindun¬ 
gen würde als eine bloße Tastempfindung anzusprechen sein, sie alle zu¬ 
sammen constituiren aber eine Gemeinempfindung. Auch von andern Sin¬ 
nen, namentlich von dem Gehörssinne aus, können derartige Gemeinempfin¬ 
dungen des Tastorgans angeregt werden. So bewirken sägende und 
klirrende Geräusche oder der Anblick gewisser Hautverletzungen bei den 
meisten Menschen in geringem und bei manchen in heftigem Grade eine 
kriebelnde Hautempfindung, an der man deutlich eine successive Ausbrei¬ 
tung bemerken kann. In allen diesen Fällen sind zugleich Muskelempfin¬ 
dungen betheiligt; namentlich aber bilden diese einen wesentlichen 
Bestandtheil bei jenem Gefühl des Schauderns, welches plötzlichen Kälte¬ 
einwirkungen und nicht selten auch andern Sinneseinwirkungen zu folgen 
pflegt. Die Ausbreitung der Erregungen geschieht offenbar in allen die¬ 
sen Fällen auf dem Weg des Reflexes, so dass die Gemeinempfindungen 
zu einem großen Theil aus Reflexempfindungen bestehen, welche theils 
direct durch Uebertragung von sensibeln auf sensible Fasern theils indi¬ 
rect durch das Mittelglied von Reflexbewegungen, an welche dann Mus¬ 
kelempfindungen gebunden sind, zu Stande kommen1). Hieraus geht 
hervor, dass in den peripherischen Nerven Verbreitungen nur die nächste 
Gelegenheitsursache, die eigentliche Quelle der Gemeinempfindungen aber 
in den Nervencentren gelegen ist, nach deren Zuständen daher auch er¬ 
fahrungsgemäß das Verhalten dieser Empfindungen vorzugsweise sich rich¬ 
tet. Selbst die Ermüdungsempfindung der Muskeln zeigt diese Eigenschaft 
der Ausbreitung und charakterisirt sich dadurch als eine Gemeinempfin¬ 
dung: an der starken Ermüdung eines einzelnen Gliedes betheiligen sich 
die übrigen Muskeln des Körpers durch eine schwächere Empfindung von 
gleicher Beschaffenheit. Es ist wahrscheinlich, dass es sich hier sogar 
nur um eine peripherische Projection von Empfindungen handelt, deren 
eigentlicher Sitz ein centraler ist. Denn jene sympathische Ermüdung an¬ 
derer Bewegungsorgane ist aus den Zuständen der Muskeln selbst in kei¬ 
ner Weise zu erklären, sie erklärt sich aber leicht, wenn man erwägt, 
dass an dem durch eine einzelne Muskelgruppe geleisteten Kraftverbrauch 
das Centralorgan mit seinem gesammten Kraftvorrath betheiligt ist. In 
dieser Beziehung reihen sich hier alle jene Gemeinempfindungen an. wel¬ 
che für die Regulation gewisser Lebensvorgänge von unerlässlicher Be¬ 
deutung sind: so die Hunger- und Durstempfindung, die Empfindung des 
Luftmangels von den mäßigen Graden normalen Athembedürfmsses an 
bis zur intensivsten Athemnoth2). Alle diese Empfindungen sind nach- 
1 ) Vgl. hierzu S. 181 Anm. 
ä) Vgl. mein Lehrbuch der Physiologie, 4. Aufl., S. 198, 411.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.