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Qualität der Empfindung.
größere Hautfläche ausbreitet, bald an ganz entlegenen Stellen ähnliche
schwache Tastempfindungen hervorruft. Jede einzelne dieser Empfindun¬
gen würde als eine bloße Tastempfindung anzusprechen sein, sie alle zu¬
sammen constituiren aber eine Gemeinempfindung. Auch von andern Sin¬
nen, namentlich von dem Gehörssinne aus, können derartige Gemeinempfin¬
dungen des Tastorgans angeregt werden. So bewirken sägende und
klirrende Geräusche oder der Anblick gewisser Hautverletzungen bei den
meisten Menschen in geringem und bei manchen in heftigem Grade eine
kriebelnde Hautempfindung, an der man deutlich eine successive Ausbrei¬
tung bemerken kann. In allen diesen Fällen sind zugleich Muskelempfin¬
dungen betheiligt; namentlich aber bilden diese einen wesentlichen
Bestandtheil bei jenem Gefühl des Schauderns, welches plötzlichen Kälte¬
einwirkungen und nicht selten auch andern Sinneseinwirkungen zu folgen
pflegt. Die Ausbreitung der Erregungen geschieht offenbar in allen die¬
sen Fällen auf dem Weg des Reflexes, so dass die Gemeinempfindungen
zu einem großen Theil aus Reflexempfindungen bestehen, welche theils
direct durch Uebertragung von sensibeln auf sensible Fasern theils indi¬
rect durch das Mittelglied von Reflexbewegungen, an welche dann Mus¬
kelempfindungen gebunden sind, zu Stande kommen1). Hieraus geht
hervor, dass in den peripherischen Nerven Verbreitungen nur die nächste
Gelegenheitsursache, die eigentliche Quelle der Gemeinempfindungen aber
in den Nervencentren gelegen ist, nach deren Zuständen daher auch er¬
fahrungsgemäß das Verhalten dieser Empfindungen vorzugsweise sich rich¬
tet. Selbst die Ermüdungsempfindung der Muskeln zeigt diese Eigenschaft
der Ausbreitung und charakterisirt sich dadurch als eine Gemeinempfin¬
dung: an der starken Ermüdung eines einzelnen Gliedes betheiligen sich
die übrigen Muskeln des Körpers durch eine schwächere Empfindung von
gleicher Beschaffenheit. Es ist wahrscheinlich, dass es sich hier sogar
nur um eine peripherische Projection von Empfindungen handelt, deren
eigentlicher Sitz ein centraler ist. Denn jene sympathische Ermüdung an¬
derer Bewegungsorgane ist aus den Zuständen der Muskeln selbst in kei¬
ner Weise zu erklären, sie erklärt sich aber leicht, wenn man erwägt,
dass an dem durch eine einzelne Muskelgruppe geleisteten Kraftverbrauch
das Centralorgan mit seinem gesammten Kraftvorrath betheiligt ist. In
dieser Beziehung reihen sich hier alle jene Gemeinempfindungen an. wel¬
che für die Regulation gewisser Lebensvorgänge von unerlässlicher Be¬
deutung sind: so die Hunger- und Durstempfindung, die Empfindung des
Luftmangels von den mäßigen Graden normalen Athembedürfmsses an
bis zur intensivsten Athemnoth2). Alle diese Empfindungen sind nach-
1 ) Vgl. hierzu S. 181 Anm.
ä) Vgl. mein Lehrbuch der Physiologie, 4. Aufl., S. 198, 411.