Volltext: Grundzüge der physiologischen Psychologie, 1. Band, 3.,umgearbeitete Auflage (1)

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Entstehung und allgemeine Eigenschaften der Empfindungen. 
ständig Erblindeten und Tauben viele Jahre hindurch die Licht- und Klang- 
empfmdungcn in der Form von Träumen, Hallucinationen und Erinnerungs¬ 
bildern1!. Aber Bedingung hierzu ist immer, dass eine gewisse Zeit hindurch 
das peripherische Sinnesorgan functionirt habe. Nach unserer Hypothese erklärt 
sich diese Erfahrung unmittelbar aus der Anpassungsfähigkeit der Nervensubstanz, 
während die Lehre von der specifischen Energie dafür schlechterdings keine 
Erklärung weiß. Zweitens muss die letztere Lehre annehmen, jedes Sinnes¬ 
element bewahre seine eigenthümliche Function unverändert durch alle Zeiten 
der Entwicklung. Denn sollte sich etwa die eine Form der Function aus der 
andern hervorgebildet haben, so wäre sie eben keine specifische mehr. Sollten 
also die Fähigkeiten des Hörens, Sehens, überhaupt die höheren Sinnesverrich¬ 
tungen irgend einmal im Thierreich entstanden sein, so wäre dies nur auf dem 
Wege einer vollständigen Neuschöpfung der betreffenden Nervenelemente mög¬ 
lich, nie aber auf dem der Entwicklung aus niedereren Sinnesformen. Hier¬ 
durch setzt sich die Lehre von der specifischen Energie in directen Widerspruch 
mit der Annahme einer Entwicklung der organischen Wesen und ihrer Func¬ 
tionen, während die Hypothese der Anpassung der Beizvorgänge an den Reiz 
nur als die besondere Form erscheint, welche die Entwicklungstheorie in Bezug 
auf die Entwicklung der Sinne annimmt. So dürfen wir denn eine Anschauung, 
zu welcher von so verschiedenen Seiten her unabhängige Wege führen, und 
aus welcher alle bekannten Erfahrungen sich ableiten lassen, wohl als hin¬ 
reichend begründet ansehen, um sie einer andern vorzuziehen, die mit der 
Mechanik der Nerven, der Physiologie der Sinne und der allgemeinen Entw ick¬ 
lungsgeschichte gleich unvereinbar ist, und von der in der That schwer wäre 
einzusehen, wie sie so lange ihre Herrschaft behaupten konnte, wäre sie nicht 
durch die in der Naturwissenschaft lange herrschende speculative Richtung be¬ 
günstigt worden. Die philosophische Grundlage der neueren Naturwissenschaften 
überhaupt und ganz besonders der Sinneslehre ruhte bisher auf Kant. Die 
Lehre von den specifischen Energien ist ein physiologischer Reflex des Kant- 
sclien Versuchs, die a priori gegebenen oder, was man meist für das nämliche 
hielt, die subjektiven Bedingungen der Erkenntniss zu ermitteln, wie dies bei 
dem hervorragendsten Vertreter jener Lehre, bei J. Müller, deutlich hervor¬ 
tritt2). Auch ließen sich die früheren physiologischen Erfahrungen über die 
Sinne ohne Schwierigkeit mit der Annahme der specifischen Energie in Einklang 
bringen. Erst die speciellen Gestaltungen, welche man dieser geben musste, 
um die neueren Beobachtungen im Gebiet des Gesichts- und Gehörssinns mit 
ihr zu vereinen, haben die oben aufgezeigten Widersprüche dargelegt, zu 
deren Beseitigung von einer andern Seite die in der Nervenphysiologie gewon¬ 
nenen Anschauungen hindrängen. Doch ist es selbstverständlich, dass die allge¬ 
meine Frage über den Zusammenhang der äußeren Reizform mit der Empfin¬ 
dung durch diese Aenderung des theoretischen Standpunktes nicht berührt wird. 
Die Empfindung ist zwar, dies lässt sich nicht verkennen, dem äußeren Reiz 
gewissermaßen näher gerückt, sie steht nicht mehr als eine unbegriffene Energie 
1) Ich habe über diese Frage mit einem intelligenten, wissenschaftlich gebildeten 
Manne correspondirt, der, in seinem achten Lebensjahre total erblindet, jetzt (1872) 
etwa zwischen dreißig und vierzig steht. Derselbe versichert mich, dass seine Traum¬ 
und Erinnerungsbilder die volle Lebhaftigkeit ihrer Farben bewahrt haben. 
2) J. Müller, Handbuch der Physiologie, II, S. 249 f. Zur vergleichenden Physio¬ 
logie des Gesichtssinns, S. 39.
	        
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