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Entstehung und allgemeine Eigenschaften der Empfindungen.
Unter den höheren Sinneswerkzeugen scheinen die Hörorgane in
der Regel aus einer Umwandlung wimpertragender Theile der Körper¬
bedeckung hervorzugehen. Da die Cilien leicht durch starke Schallerre¬
gungen in Schwingung versetzt werden, so wird schon bei den wimper¬
tragenden Protozoen der Schall die Wirkung eines Tastreizes besitzen; auch
mag auf der niedrigsten Entwicklungsstufe die Schallempfindung der
Thiere selbst in ihrer Qualität der Tastempfindung noch nahe stehen.
Jene Umwandlung besteht aber darin, dass eine Reihe wimpertragen¬
der Zellen in einer dicht unter der Körperbedeckung gelagerten Kapsel
sich abschließt, während in der Höhle der Kapsel ein geschichtetes Kalk-
concrement, der sogenannte Otolith, sich alllagert, der nun durch die
Schwingungen der Cilien bewegt wird (Fig. 92). Fast bei sämmtlichen
Wirbellosen und zum Theil noch bei den niedersten Wirbelthieren treten
uns die Hörorgane in dieser Form entgegen. Seltener erscheinen wimper¬
freie Bläschen. die aber ebenfalls einen Otolithen enthalten, als unver¬
kennbare Hörorgane: so bei manchen Mollusken und
Würmern und selbst noch in der Classe der Fische bei
den Cyclostomen ’). Die Function des Otolithen besteht
wahrscheinlich darin, dass er bei starken Schallein¬
drücken direct, bei schwachen durch die Bewegungen
der Cilien in Vibrationen geräth, welche sich den Wän-
o J
den der Otocyste und dadurch den Nervenenden mit-
theilen. Der Otolith ist so das einfache Vorbild der zum
Theil sehr verwickelten Beschwerungsapparate, die wir
in den Gehörorganen der höheren Thiere antreffen
werden.
Ein einfaches Ilörbläschen dieser Art dürfte jedoch nur in sehr ge¬
ringem Maße zur Unterscheidung verschiedener Schalleindrücke befähigt
sein. Ein wichtiger Fortschritt der Entwicklung besteht daher darin, dass
an die Stelle der Wimpern stärkere haarförmige Fortsätze treten, welche
in ihrer Länge und Masse beträchtlicher von einander abweichen. Solche
Einrichtungen sind namentlich in den verschiedenen Ordnungen der Arthro-
poden nachzuweisen. Häufig finden sich dann zugleich statt eines einzigen
Otolithen sandähnliche Anhäufungen kleiner Concremente, durch welche
die Hörhaare beschwert sind. Die Abweichungen in den Dimensionen der
Hörhaare aber weisen auf eine beginnende Anpassung an Klänge von ver-
Fig. 92. Hörorgan
einer Muschel
(Cyclas). (Nach
Leydig.) c Gehör¬
kapsel. e Wim¬
perzellen. ö Oto¬
lith.
1) Die Vermuthung ist übrigens wohl gerechtfertigt, dass in manchen dieser Fälle
cilientragende Sinnesepithelzellen noch aufgefunden werden, da solche bei den Medusen,
denen man früher ebenfalls wimperlose Otocysten zuschrieb, in neuester Zeit nach¬
gewiesen sind. Vgl. R. und 0. Hertwig, Das Nervensystem und die Sinnesorgane der
Medusen. Leipzig 1 878.