Volltext: Grundzüge der physiologischen Psychologie, 1. Band, 3.,umgearbeitete Auflage (1)

302 
Entstehung und allgemeine Eigenschaften der Empfindungen. 
Unter den höheren Sinneswerkzeugen scheinen die Hörorgane in 
der Regel aus einer Umwandlung wimpertragender Theile der Körper¬ 
bedeckung hervorzugehen. Da die Cilien leicht durch starke Schallerre¬ 
gungen in Schwingung versetzt werden, so wird schon bei den wimper¬ 
tragenden Protozoen der Schall die Wirkung eines Tastreizes besitzen; auch 
mag auf der niedrigsten Entwicklungsstufe die Schallempfindung der 
Thiere selbst in ihrer Qualität der Tastempfindung noch nahe stehen. 
Jene Umwandlung besteht aber darin, dass eine Reihe wimpertragen¬ 
der Zellen in einer dicht unter der Körperbedeckung gelagerten Kapsel 
sich abschließt, während in der Höhle der Kapsel ein geschichtetes Kalk- 
concrement, der sogenannte Otolith, sich alllagert, der nun durch die 
Schwingungen der Cilien bewegt wird (Fig. 92). Fast bei sämmtlichen 
Wirbellosen und zum Theil noch bei den niedersten Wirbelthieren treten 
uns die Hörorgane in dieser Form entgegen. Seltener erscheinen wimper¬ 
freie Bläschen. die aber ebenfalls einen Otolithen enthalten, als unver¬ 
kennbare Hörorgane: so bei manchen Mollusken und 
Würmern und selbst noch in der Classe der Fische bei 
den Cyclostomen ’). Die Function des Otolithen besteht 
wahrscheinlich darin, dass er bei starken Schallein¬ 
drücken direct, bei schwachen durch die Bewegungen 
der Cilien in Vibrationen geräth, welche sich den Wän- 
o J 
den der Otocyste und dadurch den Nervenenden mit- 
theilen. Der Otolith ist so das einfache Vorbild der zum 
Theil sehr verwickelten Beschwerungsapparate, die wir 
in den Gehörorganen der höheren Thiere antreffen 
werden. 
Ein einfaches Ilörbläschen dieser Art dürfte jedoch nur in sehr ge¬ 
ringem Maße zur Unterscheidung verschiedener Schalleindrücke befähigt 
sein. Ein wichtiger Fortschritt der Entwicklung besteht daher darin, dass 
an die Stelle der Wimpern stärkere haarförmige Fortsätze treten, welche 
in ihrer Länge und Masse beträchtlicher von einander abweichen. Solche 
Einrichtungen sind namentlich in den verschiedenen Ordnungen der Arthro- 
poden nachzuweisen. Häufig finden sich dann zugleich statt eines einzigen 
Otolithen sandähnliche Anhäufungen kleiner Concremente, durch welche 
die Hörhaare beschwert sind. Die Abweichungen in den Dimensionen der 
Hörhaare aber weisen auf eine beginnende Anpassung an Klänge von ver- 
Fig. 92. Hörorgan 
einer Muschel 
(Cyclas). (Nach 
Leydig.) c Gehör¬ 
kapsel. e Wim¬ 
perzellen. ö Oto¬ 
lith. 
1) Die Vermuthung ist übrigens wohl gerechtfertigt, dass in manchen dieser Fälle 
cilientragende Sinnesepithelzellen noch aufgefunden werden, da solche bei den Medusen, 
denen man früher ebenfalls wimperlose Otocysten zuschrieb, in neuester Zeit nach¬ 
gewiesen sind. Vgl. R. und 0. Hertwig, Das Nervensystem und die Sinnesorgane der 
Medusen. Leipzig 1 878.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.