Die Lehre von den Seejenvermögen.
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weisen und eben damit auch wenigstens die Möglichkeit der andern Yernunftideen
dart hu n sollen1). Wie der Verstand für die Erkenntniss, so ist demnach die
Vernunft gesetzgebend für das Begehrungsvermögen. Man sieht leicht, dass hier
von der Vernunft nur in ihrer zweiten Bedeutung als dem Vermögen der Ideen
die Rede sein kann. Die praktische Verwirklichung der Freiheitsidee in dem
Sittengebot entscheidet den in den Antinomien der reinen Vernunft geführten
Streit zwischen Freiheit und Nothwendigkeit zu Gunsten der ersteren2). Be¬
trachtet man jedoch den Antinomienstreit bloß theoretisch und erwägt man,
dass derselbe in der Vernunft als dem Schlussvermögen seinen Grund hat,
welches zu jeder Folge eine Bedingung zu finden fordert, so kann nicht zweifelhaft
sein, dass im rein theoretischen Betracht die Antithese Recht behält, welche
nirgends bei einem Anfang der Reihe der Bedingungen anzuhalten gestattet und
demnach jene Idee des Unbedingten als eine bloße Fiction erscheinen lässt,
welche die Vernunft sich erlaubt, um die Totalität der Bedingungen auszudrücken,
ohne deshalb aber zu gestatten, dass in dem Aufsteigen von Bedingung zu
Bedingung jemals ein Halt gemacht werde. In der That gibt auch Kant selbst,
obgleich er anscheinend den Streit unentschieden lässt, nachträglich der Anti¬
these Recht, indem er die Vereinigung des Sittengesetzes und des Naturgesetzes
nur dadurch für möglich erklärt, dass das erstere für den Menschen an sich
selbst, das letztere aber für ihn als Erscheinung Gültigkeit besitze3), wobei
freilich die Frage schwierig bleibt, wie der Mensch als Noumenon doch auch
wieder zum Phänomenon werden könne, da ja die Idee der Freiheit in ihrer
praktischen Bethätigung als Causalität in der Reihe der Erscheinungen auftritt.
Somit ist Kant zu der ihm eigenthümlichen Anwendung der drei Theile
des oberen ErkenntnissvermÖgens auf die drei Hauptvermögen der Seele zunächst
durch die Beziehung geführt worden, in welche sich ihm die Vernunft zum
Begehrungsvermögen setzte. Da nun der Verstand ohnehin schon in der früheren
Psychologie mit dem Erkenntnissvermogen selbst sich deckte, so blieb für das
zwischen Erkennen und Begehren stehende Gefühl nur die in ähnlicher Weise
zwischen dem Begriffs- und Schlussvermögen stehende Urtheilskraft übrig. Dass
bei der Beziehung der letzteren auf das Gefühl in erster Linie diese Analogie
maßgebend gewesen ist, geht aus allen Begründungen hervor, die Kant seinem
Gedanken gegeben hat4). Nimmt man nun hinzu, dass anderseits die Vernunft
als Schlussvermögen, als welches sie doch in jene Dreigliederung des oberen
ErkenntnissvermÖgens eingeht, in gar kein Verhältnis zu dem Begehren gesetzt
werden kann, sondern dass dieses erst aus der praktischen Bedeutung einer
der transcendenten Vernunftideen hervorgeht, so erhellt ohne weiteres, wie
die ganze Beziehung der drei Grundkräfte der Seele auf die drei wesentlichen
in der formalen Logik zum Ausdruck kommenden Bethätigungen der Erkennt-
nisskraft durchaus nur das Product eines künstlichen Schematisirens nach An¬
leitung logischer Formen ist. Der Schematismus hat aber im vorliegenden Falle
auch auf die Auffassung der Seelenvermögen seine Rückwirkung geübt, indem
Kant seine drei Hauptvermögen überhaupt nur in ihren höheren Aeußerungen
berücksichtigt. Wenn es schon zweifelhaft ist, ob das erste Vermögen in der
Gesammtheit seiner Erscheinungen passend unter dem Namen der Erkenntniss
zusammengefasst werde, so leidet es gar keinen Zweifel, dass die Beschränkung
1) Kritik der prakt. Vernunft, S. 106.
2) Kritik der reinen Vernunft, S. 353.
3) Kritik der prakt. Vernunft, S. 109,
Werke, VIII.
4) Kritik der Urtheilskraft, S. 15.
Wundt, Grundzüge. 3. Aufl.
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