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Physiologische Mechanik der Nervensubstanz.
sie nach momentanen Reizen in der ganzen Länge des Nerven gefunden
werden; der einzige Unterschied besteht darin, dass die erregenden und
hemmenden Wirkungen in ermäßigtem Grade fortdauern, so lange der
Strom geschlossen ist, indem zugleich fortwährend die Erregung im Ueber-
newichte bleibt. Anders verhält es sich aber in der Nähe der Anode :
liier sind hemmende Kräfte von bedeutender Stärke wirksam, welche mit
der Stromintensität weit rascher zunehmen als die erregenden Wirkungen,
so dass bei etwas stärkeren Strömen, falls die Anode gegen den Muskel
hin liegt, die an derselben stattfindende Hemmung die Fortpflanzung der
an der Kathode beginnenden Erregung zum Muskel hindert. In Folge
davon nimmt mit der Verstärkung des aufsteigend gerichteten Stromes die
Schließungszuckung sehr bald wieder ab und verschwindet endlich ganz.
Die anodische Hemmung beginnt an der Anode im Moment der Schließung,
sie breitet dann aber langsam und allmählich abnehmend in weitere Ent¬
fernung sich aus. Je nach der Stromstärke legt sie nämlich nur zwischen
80 und 500 mm in der Sec. zurück, bleibt also weit hinter dem mit
einer Schnelligkeit von 26—32 Meter forteilenden Erregungsvorgang zurück.
Mit der Stärke des Stromes nimmt die Geschwindigkeit der Hemmung be¬
deutend zu, und sie breitet nun auch über die Kathode sich aus. Bei
der Oeffnung des Stromes verschwinden die während der Schließung
vorhandenen Unterschiede mehr oder weniger rasch, und zugleich kommen
an der Kathode vorübergehend die hemmenden Wirkungen zum Ueber-
gewichte: in diesem Ausgleichungsvorgange besteht die Oeffnungsreizung.
Sie geht vorzugsweise von der Gegend der Anode aus, wo die während
der Schließung bestandene Hemmung in Erregung umschlägt, eine Schwan¬
kung, die um so rascher geschieht, je stärker der Strom war. Die Eigen-
thümlichkeit der vom constanten Strom ausgelösten ReizungsVorgänge lässt
hiernach im allgemeinen dahin sich feststellen, dass die erregenden und
hemmenden Wirkungen, die bei andern Reizungen sich gleichmäßig über
den Nerven verbreiten, nach der Lage der Elektroden sich scheiden, in¬
dem bei Her Schließung in der Gegend der Kathode die erregenden, in
der Gegend der Anode die hemmenden Kräfte überwiegen, bei der Oeff¬
nung aber eine Ausgleichung stattfindet, welche vorübergehend die ent¬
gegengesetzte Kräftevertheilung herbeiführt1).
Ehe wir zu den theoretischen Folgerungen aus den oben mitgetlieilten Ver¬
suchsergebnissen übergehen, sei eine kurze Auseinandersetzung der zur Ge¬
winnung derselben angewandten Methoden hier eingeschaltet. Zur Aufzeichnung
der Zuckungscurven des Muskels habe ich mich in allen Fallen des Pendel-
myographion bedient, zur Reizung des Nerven bald der Schließung oder Oeff-
1) Vgl. die ausführlichere Zusammenstellung der Ergebnisse über die Reizung durch
den constanten Strom in meinen Untersuchungen S. 223 ff.