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Einleitung.
I. Erkenntnisvermögen.
1. Niederes Erkenntnisvermögen.
Sinn. Einbildungskraft. Dichtungsver¬
mögen. Gedächtnis (Vergessen und
Erinnern).
2. Höheres Erkenntnisvermögen.
Aufmerksamkeit und Reflexion. Verstand1).
II. Begehrungsvermögen.
1. Niederes Begehrungsvermögen.
Lust und Unlust, Sinnliche Begierde
und sinnlicher Abscheu. Alfecte.
2. Höheres Begehrungsvermögen.
Wollen und Nichtwollen. Freiheit.
Ein wesentlicher Fortschritt dieses Systems, das in der LEiBNiz’schen Unter¬
scheidung des Vorstellens und Strebens als der Grundkräfte der Monaden seine
nächste Grundlage hat, lag darin, dass es das Gefühls- und Begehrungsvermögen
nicht auf den Affect und das sinnliche Begehren beschränkte, sondern ihm den¬
selben Umfang wie der Erkenntniss gab, so dass von einem ethischen Werth¬
unterschied nicht mehr die Rede war. Dagegen ist ersichtlich, dass bei der
Unterscheidung der in den vier Hauptclassen aufgeführten einzelnen Vermögen
kein systematisches Princip maßgebend ist, sondern dass dieselben rein empi¬
risch an einander gereiht sind. In der WoLFF’schen Schule wurde diese Flin¬
theilung mannigfach modificirt. Namentlich wurden bald Erkenntniss und Gefühl
als die beiden Hauptvermögen bezeichnet, bald wurde das Fühlen dem Erkennen
und Begehren als drittes und mittleres hinzu gefügt. Die letztere Classification
ist es, die Kant adoptirt hat. Wolff wird schon in der empirischen Seelen¬
lehre von dem Bestreben geleitet, die verschiedenen Vermögen aus einer ein¬
zigen Grundkraft, der vorstehenden Kraft, abzuleiten, und seine rationale Psy¬
chologie ist zu. einem großen Theil jener Aufgabe gewidmet. Seine Schüler
sind hierin zum Theil noch weiter gegangen. Kant missbilligte solche Versuche,
gegebene Unterschiede um eines bloßen Strebens nach Einheit willen verwischen
zu wollen. Dennoch ragt auch bei ihm die Erkenntniss über die beiden andern
Seelenkräfte herüber, da jeder derselben ein besonderes Vermögen in der Sphäre
des Erkennens entspricht. In dieser Beziehung der drei Grundvermögen auf
die Formen der Erkenntnisskraft besteht das Eigenthümliclie der KANr’schen
Psychologie. Während Wolff und die Späteren, welche die Quellen der innern
Erfahrung auf eine einzige zurückzuführen suchten, diese in der Erkenntniss
oder in ihrem Hauptphänomen, der Vorstellung, zu finden glaubten, behauptete
Kant die ursprüngliche Verschiedenartigkeit des Erkennens, Fühlens und Be¬
gehrens. Ueber diese drei Grundkräfte erstreckt sich nur insofern das Erkennt¬
nisvermögen, als es gesetzgeberisch auch für die beiden andern auftritt;
denn es erzeugt sowohl die Naturbegriffe wie den Freiheitsbegriff, der den Grund
zu den praktischen Vorschriften des Willens enthält, außerdem die zwischen
beiden stehenden Zweckmäßigkeits- und Geschmacksurtheile. Demnach sagt
Kant von dem Verstand im engeren Sinne, er sei gesetzgeberisch für das Er¬
kenntnisvermögen, die Vernunft für das Begehrungsvermögen, die Urtheilskraft
für das Gefühl2). Verstand, Urtheilskraft und Vernunft werden dann aber auch
1) Begriff, Urtheil und Schluss bezeichnet Wolff als die drei Operationen des
Verstandes, führt also keines derselben auf ein besonderes Vermögen zurück, die Ver¬
nunft handelt er, neben dem ingenium, der Kunst des Erfindens, Beobachtens etc.
unter den natürlichen Dispositionen des Verstandes ab. Psychologia empirica. Edit,
nov. Francof. et Lipsiae 1738.
2) Kritik der Urtheilskraft S. 14 ff. Ausg. von Rosenkranz IV.