Volltext: Grundzüge der physiologischen Psychologie, 1. Band, 3.,umgearbeitete Auflage (1)

Allgemeine Gesetze der centralen Functionen. 
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eine vorwärts treibende Kraft ihren Sitz haben. Ebenso leitete er die Reit- 
bahnbewegunsen bei Hirnschenkelverletzuimen ans 
dem aufgehobenen Gleich¬ 
gewicht rechts- und linksdrehender Kräfte her. Flourens verband mit derselben 
Treue der Beobachtung klarere psychologische Begriffe. Seine Untersuchungen 
erstreckten sich hauptsächlich auf das verlängerte Mark, die Yierhügel, das kleine 
und große Gehirn. Das erstere bestimmte er als das Centrum der Herz- und 
Athembewegungen, die Yierhügel als Centralorgane für den Gesichtssinn, das 
Cerebellum als den Coordinator der willkürlichen Bewegungen, die Großhirn¬ 
lappen als den Sitz der Intelligenz und des Willens1). Aber diese Theile ver¬ 
hielten sich, wie er fand, zu den von ihnen abhängigen Functionen verschieden. 
Die centralen Eigenschaften des verlängerten Marks sieht er auf einen kleinen 
Raum, seinen noeud vital, beschränkt, dessen Zerstörung augenblicklich das 
Leben vernichte. Die höheren Centraltheile dagegen treten mit ihrer ganzen 
Masse gleichmäßig für die ihnen zugewiesene Function ein. Dies schließt er 
daraus, dass die Störungen, die durch {heilweise Abtragung der Großhirnlappen, 
des Kleinhirns oder der Yierhügel verursacht werden, im Laufe der Zeit sich 
ausgleichen. Der kleinste Theil dieser Organe kann demnach, so nimmt er an, 
für das Ganze functioniren. Hierdurch trat die Lehre Flourens7 in scharfen 
Gegensatz zu den phrenologischen Vorstellungen, zugleich aber entsprach sie 
ziemlich getreu der Beobachtung. So kam es, dass sie bis in die neueste Zeit 
in der Physiologie die herrschende Anschauung blieb. Aber augenscheinlich 
kehren hier in psychologischer Beziehung ähnliche Schwierigkeiten wieder, wie 
sie sich der Organenlehre der Phrenologen entgegensetzen. Intelligenz und Wille 
sind complexe Fähigkeiten. Dass dieselben in jedem kleinsten Theil der Gro߬ 
hirnlappen ihren Sitz haben sollen, ist im Grunde ebenso schwer begreiflich, 
als dass Sprachgedächtniss, Ortssinn u. s. w. irgendwo localisirt seien. Zudem 
bleibt es dunkel, welche Bedeutung den einzelnen Theilen, die die anatomische 
Zergliederung der Hirnhemisphären unterscheiden lässt, zukommen soll, wenn 
diese sich in functioneller Beziehung etwa ebenso gleichartig verhalten wie die 
Leber. Ohne Zweifel hierdurch veranlasst kehrten die Anatomen, wo sie sich 
auf Specuiationen über die Bedeutung der Gehirntheile einließen, meistens zu 
der Vorstellung einer Localisation der geistigen Fähigkeiten zurück2). So kam 
es denn auch, dass die durch Flourens in die Wissenschaft eingeführten An¬ 
sichten hauptsächlich in Folge einer innigeren Verbindung der anatomischen und 
der physiologischen Beobachtung allmählich wankend wurden. Von entscheiden¬ 
dem Gewichte waren hierbei einerseits die Untersuchungen über die Elementar¬ 
st ructur der Centralorgane, anderseits die aus physiologischen und pathologischen 
Beobachtungen gewonnenen Aufschlüsse über die Localisation gewisser Sinnes¬ 
functionen und motorischer Wirkungen. Bahnbrechend in letzteren Beziehungen 
wurde namentlich die Entdeckung der anatomischen Grundlagen der Aphasie. 
Gleichwohl blieb zwischen diesen Resultaten und den Ergebnissen der theil- 
weisen Abtragung der Hemisphären nach dem Vorgänge von Flourens ein ge¬ 
wisser Widerspruch bestehen, da als das bleibende Symptom nach letzterer 
Operation nicht die Beseitigung einzelner Functionen, sondern die Abschwächung 
!) Flourens, Recherches expér. sur les fonctions du système nerveux. 2me édit. 
Paris 4 842. 
2) Ygl. z. B. Arnold, Physiologie, I, S. 836. Huschke, Schädel, Hirn und Seele, 
S. -174.
	        
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