Volltext: Grundzüge der physiologischen Psychologie, 1. Band, 3.,umgearbeitete Auflage (1)

Die Lehre von den Seelenvermögen. 
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b. Die Seelenvermögen. Es ist längst das Bestreben der Philosophen 
gewesen, die vielen Seelenvermögen, welche die Sprache unterscheidet, wie 
Empfindung, Gefühl, Verstand, Vernunft, Begierde, Einbildungskraft, Gedächt- 
niss u. s. w., auf einige allgemeinere Formen zurückzuführen. Schon im Plato¬ 
nischen Timäus findet sich eine Dreitheilung der Seele angedeutet, die der Unter¬ 
scheidung des Erkenntniss-, Gefühls- und Begehrungsvermögens entspricht. Dieser 
Dreitheilung geht aber eine Zweitheilung in niederes und höheres Seelenvermögen 
parallel, wovon das erstere, die Sinnlichkeit, als der sterbliche Seelentheil zu¬ 
gleich Begierde und Gefühl umfasst, während das zweite, die unsterbliche 
Vernunft, mit der Erkenntniss sich deckt. Das Gefühl oder der Affect gilt 
hierbei ebenso als vermittelnde Stufe zwischen Begehren und Vernunft, wie die 
wahre Vorstellung zwischen den sinnlichen Schein und die Erkenntniss sich 
einschiebt. Aber während die Empfindung ausdrücklich mit der Begierde auf 
den nämlichen Theil der Seele bezogen wird *), scheinen das vermittelnde 
Denken (die Stavota) und der Atfect nur in analoge Beziehungen zur Vernunft 
gesetzt zu werden. Es machen demnach diese Classifications versuche den Ein¬ 
druck, als wenn Plato seine beiden Eintheilungsprincipien, von denen dem 
einen die Beobachtung eines fundamentalen Unterschiedes zwischen den Phäno¬ 
menen des Erkennens, Fühlens und Begehrens, dem andern die Wahrnehmung 
einer Stufenfolge im Erkenntnissprocess zu Grunde lag, unabhängig neben ein¬ 
ander gebildet und erst nachträglich den Versuch gemacht habe, das eine auf 
das andere zurückzuführen, was ihm aber nur unvollständig gelang. Bei Aristo¬ 
teles sondert sich die Seele, da er sie als das Princip des Lebens auffasst, nach 
der Stufenfolge der vornehmlichsten Lebenserscheinungen in Ernährung, Empfin¬ 
dung und Denkkraft. Zwar führt er gelegentlich noch andere Seelenvermögen 
an; doch ist deutlich, dass er jene drei als die allgemeinsten betrachtet, indem 
er insbesondere auch das Begehren der Empfindung unterordnet1 2). Hatte Plato 
bei seiner Dreitheilung die Eigenschaften der Seele nach ihrem ethischen Werth 
gemessen, so gewann Aristoteles die seinige, conform seinem Begriff von der 
Seele, aus den Hauptclassen der lebenden Wesen: ernährend ist die Seele der 
Pflanze, ernährend und empfindend die thierische, ernährend, empfindend und 
denkend die menschliche. Eben diese in der Beobachtung der verschieden¬ 
artigen Wesen gegebene Trennbarkeit der drei Vermögen war wohl die ur¬ 
sprüngliche Veranlassung der Classification. Mag aber auch der Ausgangspunkt 
derselben ein abweichender sein, so fällt sie doch offenbar, sobald wir von 
der Unterscheidung der Ernährung als einer besonderen Seelenkraft absehen, 
mit der Platonischen Zweitheilung in Sinnlichkeit und Vernunft zusammen und 
kann also ebenso wenig wie irgend einer der späteren Versuche als ein wirk¬ 
lich neues System betrachtet werden. 
Unter den Neueren hat der einflussreichste psychologische Systematiker, 
Wolff, wieder die beiden Platonischen Eintheilungen neben einander benutzt, 
dabei aber das Gefühls- dem Begehrungsvermögen untergeordnet. Hierdurch 
schreitet sein ganzes System in einer Zweitheilung fort. Er sondert zunächst 
Erkennen und Begehren und trennt sodann jedes derselben in einen niederen 
und einen höheren Theil. Die weitere Eintheilung erhellt aus der folgenden 
Uebersichtstafel. 
1) Timäus 77. 
2) De anim. II, 2, 3.
	        
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