Functionen der Großhirnhemisphären.
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auch von Seiten der Stellvertretungshypothese geschieht. Der Unterschied
beider Anschauungen besteht also nur darin, dass die Bekämpfer der
Localisation geneigt sind, ein minder strenges Gebundensein bestimmter
Functionen an bestimmte Theile der Großhirnrinde vorauszusetzen, und
hierin liegt eben, dass sie eine Stellvertretung in weit größerem Umfange
für möglich halten, als dies gewöhnlich angenommen wird. In letzterer
Beziehung muss nun in der That zugegeben werden, dass die Hypothesen,
wonach die Stellvertretung entweder auf symmetrisch gelegene Elemente
der andern Hirnhälfte1) oder auf unmittelbar benachbarte Elemente2) sich
beschränken soll, den Erfordernissen der Beobachtung nicht genügen. Ist
auch bei der Ausgleichung gewisser Störungen, z. B. der totalen Aphasie,
eine Stellvertretung durch die gegenüberliegende Hirnhälfte zu vermuthen,
und mag es in andern Fällen, z. B. bei der Ausgleichung motorischer
Störungen, die durch umschriebene Rindendefecte veranlasst sind, wahr¬
scheinlicher sein, dass zunächst die Erregungen auf benachbarte Rinden-
theile sich ausbreiten, die nunmehr allmählich den neuen Einflüssen sich
anpassen, so lassen doch die relativ unbedeutenden Erfolge größerer Sub¬
stanzverluste bei Thieren kaum bezweifeln, dass unter Umständen, nament¬
lich bei einer relativ unvollkommenen Ausbildung der Centralorgane, jenes
Princip der stellvertretenden Function schließlich nur an den Grenzen
des die Zellen der Großhirnrinde nach allen Seiten verbindenden Faser¬
netzes seine eigene Grenze findet. Gerade die Indifferenz der Function,
die wir für die nervösen Elemente voraussetzen müssen, dürfte es be¬
greiflich machen, dass diejenigen Ausfallserscheinungen, die nach einer
vor längerer Zeit eingetretenen Hinwegnahme ansehnlicher Theile der Hirn¬
lappen bei Thieren Zurückbleiben, nicht sowohl in einem Mangel be¬
stimmter Sinnesempfindungen oder Bewegungen als vielmehr in einer
allgemeinen Depression der geistigen Functionen bestehen. Wenn wir
bedenken, dass in dem gebliebenen Gehirnrest Erregungen, die zuvor
getrennt waren, vielfach an die nämlichen centralen Elemente gebunden
sein werden, so wird es einigermaßen begreiflich, dass sich die Wahr¬
nehmungen unvollkommen vollziehen, dass die Thiere zu feineren Be¬
wegungen ungeschickt werden, und dass intellectuelle Ueberlegungen, zu
denen stets zahlreiche reproducirte Vorstellungen disponibel sein müssen,
fast ganz hinwegfallen ; und wir werden nicht nöthig haben zur Erklärung
derartiger Erscheinungen zu der abenteuerlichen Vorstellung zu greifen,
dass in jeder Ganglienzelle der Großhirnrinde ein Partikelchen » Intelligenz «
seinen Sitz habe, welche demnach proportional dem Verlust an grauer
1) Soltmann, Jalirb. f. Kinderheilkunde. N. F. IX, S. 106.
2) Carville und Duret, Arch, de physiol. 1875, p. 352.
Wundt, Grundziige. 3. Anfl.
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