222
Physiologische Function der Centraltlieile.
einer der fünf Sinnesqualitäten (Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, Ge¬
fühl) auf Reize reagire. Hier war mit der specifischen Energie immer
noch ein klarer und einfacher Begriff verbunden. Sollten aber Raumsinn,
Farbensinn, Formensinn oder Verstand, Phantasie, Gedächtniss u. s. w. an
verschiedene Elementartheile gebunden sein, so wurden nicht nur viel
mannigfaltigere Functionen, sondern überdies solche vorausgesetzt, mit
denen ein einfacher Begriff sich schlechterdings nicht mehr verbinden
ließ. Wir können uns vorstellen, dass eine bestimmte Nervenfaser oder
eine bestimmte Ganglienzelle nur in der Form der Lichtempfindung oder
des motorischen Impulses functionire, nicht aber, wie etwa gewisse centrale
Elemente der Phantasie, andere dem Verstände dienen sollen. Augen¬
scheinlich liegt hier der Widerspruch darin, dass man sich complexe
Functionen an einfache Gebilde gebunden denkt. Wir müssen aber
nothwendis annehmen, dass elementare Gebilde auch nur eie-
mentarer Leistungen fällig sind. Solche elementare Leistungen sind
nun im Gebiet der centralen Functionen Empfindungen, Bewegungsanstöße,
nicht Phantasie, Gedächtniss u. s. L
Sogar in diesem beschränkteren Sinne ist jedoch die Annahme einer
specifischen Energie zweifelhaft geworden. Dieselbe würde nothwendig
zu der Vorstellung einer unabänderlichen Constanz der Function
führen: die motorische Nervenfaser oder Ganglienzelle dürfte unter keinerlei
Umständen zur Leitung oder Uebertragung von Empfindungen sich her¬
geben, ja eine bestimmte sensible Faser würde immer nur eine bestimmte
Art der Sinneserregung zu leiten vermögen. Bei den Nervenfasern
widerspricht dieser Annahme das nicht zu bezweifelnde doppelsinnige
Leitungsvermögen1). Wenn die motorischen und die sensibeln Nerven
L Abgesehen von der doppelseitigen Fortpflanzung der negativen Schwankung des
Nervenstroms, in der man allerdings nicht mehr als einen Wahrscheinlichkeitsgrund
für das doppelsinnige Leitungsvermögen wird erblicken können, sind es hauptsächlich
zwei experimentelle Thatsachen, aus denen das letztere gefolgert werden muss: erstens
die von Kühne beobachtete Erscheinung, dass Reizung eines motorischen Nervenzweiges
Zuckungen solcher Muskelpartien auslösen kann, die von Fasern versorgt werden,
welche höher oben aus dem nämlichen Nerven entspringen (Archiv f. Anat. u. Physiol.
1859, S. 595), und zweitens die von Paul Bert gemachte Beobachtung, dass der Schwanz
einer Ratte, nachdem zuerst seine Spitze mit dem Rücken des Thieres verheilt und
dann seine Basis durchschnitten worden ist, gleichwohl in seiner ganzen Länge em¬
pfindlich bleibt (Compt. rend. t. 84, 1 877, p. 173). Die erste dieser Beobachtungen
beweist, dass die motorische Nervenfaser in centripetaler, die zweite, dass die sen¬
sible in centrifugaler Richtung zu leiten vermag. Eine noch directere Bestätigung der
functionellen Indifferenz peripherischer Nerven suchten Philipeaux und Vulpian zu ge¬
winnen, indem sie die Durchschnittsenden eines motorischen und sensibeln Nerven
(Hvpoglossus und Lingualis) mit einander verheilten und nun durch Reizung des ur¬
sprünglich sensibeln Nerventheils Muskelcontractionen auslösten. Neuere Untersuchun¬
gen von Vulpian haben jedoch die Beweiskraft dieses Versuchs in Frage gestellt, indem
sie es wahrscheinlich machten, dass die Erscheinung von beigemengten motorischen
Fasern (der Chorda tvmpani) herrührt. (Compt, rend. t. 76, 1873, p. 146.)