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Einleitung.
unserer inneren Wahrnehmung gegebenen Vorgänge entgegen, die wir, an
diese Ausdrücke gebunden, im Ganzen kaum antasten können. Wohl aber
ist die genaue Definition dieser Begriffe und ihre Einfügung in eine syste¬
matische Ordnung durchaus Sache der Wissenschaft. Wahrscheinlich haben
die Seelenvermögen ursprünglich nicht bloß verschiedene Theile des innern
Erfahrungsgebietes, sondern ebenso viele verschiedene Wesen bezeichnet,
über deren Verhältniss zu jenem Gesammtvvesen, das man Seele oder
Geist nannte, sich wohl keine bestimmte Vorstellung bildete. Aber die
Substantialisirung dieser Begriffe liegt so weit zurück in den Fernen my¬
thologischer Naturanschauung, dass es einer Warnung vor der voreiligen
Aufstellung metaphysischer Substanzen hier nicht erst bedarf. Trotzdem
hat eine Nachwirkung der mythologischen Auffassung bis in die neuere
Wissenschaft sich vererbt. Sie besteht darin, dass den genannten Be¬
griffen noch eine Spur dos mythologischen Kraftbegriff's anhaftet: sie wer¬
den nicht bloß als Glassenbezeichnungen für bestimmte Gebiete der innern
Erfahrung angesehen, was sie in der That sind, sondern man hält sie
vielfach für Kräfte, durch welche die einzelnen Erscheinungen hervorge¬
bracht werden. Der Verstand gilt für die Kraft, durch welche wir Wahr¬
heiten einsehen, das Gedächtniss für die Kraft, welche Vorstellungen zu
künftigem Gebrauche aufbewahrt u. s. w. Der unregelmäßige Eintritt
dieser Kräftewirkungen hat aber auf der andern Seite gegen den Namen
einer eigentlichen Kraft Bedenken erregt, und so ist der Ausdruck Seelen-
vermögen entstanden. Denn unter einem Vermögen versteht man dem
Wortsinne nach eine solche Kraft, die nicht nothwendig und unabänder¬
lich wirken muss, sondern die nur wirken kann. Der Ursprung aus
dem mythologischen Kraftbegriff- fällt hier unmittelbar in die Augen. Das
Urbild für das Wirken einer derartigen Kraft ist offenbar das menschliche
Handeln. Die ursprüngliche Bedeutung des Vermögens ist die eines han¬
delnden Wesens. So liegt schon in der ersten Bildung der psychologischen
Begriffe der Keim zu jener Vermengung von Classification und Erklärung,
welche einen gewöhnlichen Fehler der empirischen Psychologie bildet.
Die all gemeine Bemerkung, dass die Seelenvermögen Classenbegriffe sind,
welche der beschreibenden Psychologie zugehören, enthebt uns der Noth-
wendigkeit, ihnen schon hier ihre Bedeutung anzuweisen. In der That
ließe sich eine Naturlehre der innern Erfahrung denken, in der von Sinn¬
lichkeit, Verstand, Vernunft, Gedächtniss u. s. w. gar nicht die Rede wäre.
Denn unmittelbar in unserer inneren Wahrnehmung gibt es nur einzelne
Vorstellungen, Gefühle. Triebe u. s. w., und für die Erklärung dieser
einzelnen Thatsachen ist durch ihre Subsumtion unter gewisse Allgemein¬
begriffe schlechterdings nichts geleistet.
Nachdem man die Unbrauchbarkeit der Vermögensbegriffe gegenwärtig