Reflexfunctionen.
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über der mächtigste sensible Hirnnerv, der Trigeminus, gesetzt. Zunächst
greift seine Reizung auf seine eigene, die Kaumuskeln versorgende moto¬
rische Wurzel, dann auf den Antlitznerven, die Respirationsnerven und
endlich auf die gesammte Muskulatur des Körpers über. Dieses Verhalten
erklärt sich leicht einerseits daraus, dass der Trigeminus unter allen sen-
sibeln Wurzeln die größte sensible Fläche beherrscht, und dass daher
auch seine Nervenkerne ein weites Gebiet einnehmen, das zu vielseitigen
Verbindungen mit motorischen Ursprungscentren Veranlassung gibt; ander¬
seits kommen die speciellen Lagerungsverhältnisse seiner Kerne in Rück¬
sicht. Die oberen dieser Kerne sind über die eigentliche medulla oblon¬
gata hinauf in die Brücke verlegt, in jenes Gebilde also, in welchem die
aufsteigenden Markstränge unter Interpolation grauer Substanz zu den ver¬
schiedenen Bündeln des Hirnschenkels sich ordnen. Erstrecken sich nun,
wie es wohl denkbar ist, Centralfasern der Quintuskerne zu solchen grauen
Massen der Brücke, in welchen alle motorischen Leitungsbahnen des Kör¬
pers vertreten sind, so wird die Leichtigkeit, mit der gerade nach Quintus-
reizung allgemeine Muskelkrämpfe entstehen, verständlich. Vorzugsweise
leicht treten aber die letzteren auf, wenn die centralen Wurzelfasern jenes
Nerven gereizt werden. Verletzungen des verlängerten Marks in der Nähe
der Quintuskerne haben daher allgemeine Reflexkrämpfe im Gefolge, wobei
übrigens an diesen auch die Reizung anderer sensibler Wurzeln der
medulla oblongata betheiligt sein mag1).
Fast alle Reflexerscheinungen tragen den Charakter der Zweck¬
mäßigkeit an sich. Bei den Oblongatareflexen erhellt dies unmittelbar
aus der oben gegebenen Schilderung ihrer Bedingungen und ihres geord¬
neten Zusammenwirkens. Auch bei den Rückenmarksreflexen gibt sich
aber dieser zweckmäßige Charakter in den einzelnen Beobachtungen mei¬
stens zu erkennen: wenn z. B. eine Hautstelle gereizt wird, so bewegt
das Thier den Arm oder das Bein in einer Weise, die sichtlich auf die
Entfernung des Reizes gerichtet ist; wird der Reflex stärker, so betheiligt
sich zunächst die gegenüberliegende Extremität in entsprechendem Sinne,
oder das Thier führt eine Sprungbewegung aus, durch welche es der
Einwirkung des Reizes zu entfliehen scheint. Nur wenn die Bewegungen
einen krampfhaften Charakter annehmen, wie es bei sehr starken Reizen
oder gesteigerter Erregbarkeit vorkommt, verlieren sie diesen Charakter der
Zweckmäßigkeit. Der letztere hat nun hier die Frage veranlasst, ob die
Reil exe als mechanische Erfolge der Reizung und ihrer Ausbreitung in
dem Centralorgan oder aber als Handlungen von psvchischem Charak-
ter anzusehen seien, die als solche, ähnlich wie die willkürlichen Bewe-
]) Nothnagel, Virchow's Archiv XLIV, S. 4.