Methoden zur Erforschung der Leitungsbahnen.
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Die Lücken, die das physiologische Experiment lässt, ergänzt die
anatomische Untersuchung insofern, als sie gerade auf jene Ermit¬
telung der Verbindungswege zwischen functioneil zusammengehörigen Ge¬
bieten hauptsächlich ausgeht, welche der physiologische Versuch zum
größten Theile unerledigt lässt. Zwei Wege hat zu diesem Zweck die
Anatomie successiv eingeschlagen: die makroskopische Zerfaserung des
gehärteten Organs und die mikroskopische Zerlegung desselben in eine
Reihe dünner Schnitte. Wenn die erste dieser Methoden wegen der Ge¬
fahr, die sie in sich schließt, Kunstproducte des zerlegenden Messers für
wirkliche Faserzüge anzusehen, in neuerer Zeit in Verruf gekommen ist,
so übersieht man einerseits, dass sie vorsichtig angewandt ein immerhin
schätzbares Htilfsmittel zur Orientirung über gewisse breitere Verlaufs¬
wege abgibt, und man ist andrerseits geneigt die Gefahr zu unterschätzen,
welche die Interpretation der mikroskopischen Bilder mit sich führt. Diese
aber hat einen um so größeren Spielraum, je weniger das ideale Ziel der
mikroskopischen Durchforschung des Centralorgans, seine vollständige Zer¬
legung in eine unendliche Zahl von Schnitten genau bestimmter Richtung,
thatsächlich erreichbar ist. Eine höchst bedeutsame Ergänzung findet da¬
her die anatomische wieder an der entwicklun gs geschichtlichen
Untersuchung. Indem diese feststellt, dass die Ausbildung gewisser phy¬
siologisch zusammengehöriger Fasersysteme des Centralorgans in verschie¬
denen Zeiträumen der fötalen Entwicklung erfolgt, macht sie es möglich,
wenigstens einzelne der hauptsächlichsten Verlaufsbahnen nahezu voll¬
ständig zu verfolgen. Auch diese Methode findet freilich daran ihre Grenze,
dass die gleichzeitig entwickelten Fasersysteme immer noch zahlreiche
Gruppen einschließen können, welche eine verschiedene functionelle Be¬
deutung besitzen.
Die pathologische Beobachtung, indem sie zu der Ermittelung
der functioneilen Störungen diejenige der anatomischen Veränderungen
hinzufügt, vereinigt in gewissem Grade die Vorzüge der physiologischen
mit denjenigen der anatomischen Untersuchung. Für die Erforschung der
Leitungswege aber ist die pathologisch-anatomische Beobachtung vor allem
dadurch fruchtbar geworden, dass sie auf ein ähnliches Princip wie die
entwicklungsgeschichtliche Untersuchung sich stützen kann, indem die zu
bestimmten Functionsherden gehörenden Fasern in Folge der aufgehobenen
Function der ersteren secundär erkranken, so dass, falls nicht sonstige
Bedingungen eine zufällige Coexistenz der Erkrankung wahrscheinlich
machen, diejenigen Fasern, die gleichzeitig pathologisch ver¬
ändert sind, als functionell zusammengehörige aufgefasst
werden können. Von besonderem Vortheil verspricht die Beobachtung
der secundären Degenerationen durch ihre Verbindung mit dem phy-