Adam Smith’s Moralphilosophie.
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Gottheit sind, wozu dann die Mühe, ihre allmähliche Entstehung
aus den sinnlichen Gefühlen nachzuweisen, wozu dann vor allem
die Annahme eines so weltlichen Principe, als es der Beifall der
Welt ist, zur Erklärung des Gewissens?
Smith hat es hier versäumt, zwei Betrachtungen, deren jede
für sich er richtig angestellt hat, in causale Beziehung zu bringen.
Er hat einerseits das Sittliche rein empirisch aus Principien der
menschlichen Organisation abgeleitet; er ist auch ferner von der
psychologischen Entstehung der Religionsvorstellungen überzeugt;
er weiß, dass die Gottesvorstellung heim Einzelwesen und beim
einzelnen Volke je nach dem Standpunkt ihrer Reife verschieden
ist, dass die Menschen von Natur einen Hang haben, »jenen ge-
heimnissvollen Wesen, die in allen Ländern die Gegenstände gottes¬
dienstlicher Verehrung sind, alle ihre Empfindungen und Leiden¬
schaften beizulegen«1); also: »wie einer ist, so ist sein Gott« —
diese Wahrheit hat auch Smith schon erkannt.
Aber anstatt diesen Parallelismus zwischen der Entstehung der
sittlichen und derjenigen der religiösen Vorstellungen deutlich her¬
vorzuheben, anstatt vielleicht noch einen Schritt weiter zu gehen
und die letzteren speciell sich aus den sittlichen Gefühlen der
Ehrfurcht und Pietät entwickelnd zu denken, anstatt dessen bleibt
er an der populären, dem wirklichen Verlauf der Thatsachen ent¬
gegengesetzten Vorstellungsweise haften und erklärt Sittlichkeit für
einen Befehl der Gottheit, trotzdem er von der Entstehung sowohl
der ersteren als der letzteren eine empirisch-psychologische Ab¬
leitung gegeben hat.
Diese Inconsequenz berührt indessen den wissenschaftlichen
Kernpunkt der Theorie nicht. Wer aber, wie Oncken, auf solche
Inconsequenzen, anstatt sie psychologisch zu deuten, den Haupt¬
nachdruck legt, der verfehlt natürlich jenen Kernpunkt zu Gunsten
einer »Rettung«, die, mag sie auch noch so sehr nach dem Herzen
des speciellen Schriftstellers sein, doch von einem anderen Stand¬
punkte aus nicht allein als ein unnöthiges, sondern auch als ein
die wissenschaftliche Bedeutung und Originalität des Denkers schä¬
digendes Unternehmen angesehen werden muss.
1} I S. 369.