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welches man vielleicht einmal als Kind heim ersten Anblick eines
solchen Trauernden, oder auch in solchen Fällen empfunden hat,
welche zur Erregung desselben besonders günstige Bedingungen mit¬
brachten. Von dieser bedingten oder reflectirten Sympathie muss
nun behauptet werden, dass sie weit häufiger vorkommt, als Smith
es anzunehmen scheint. Er behandelt sie als Ausnahme, sie ist
aber vielleicht — und je complicirter die Lehensverhältnisse, um
so noth wendiger — die Kegel; es tritt durch sie eine äußerst wohl-
thätige Entlastung unseres sensiblen Nervensystems ein, welches
bei der unendlichen Mannigfaltigkeit unserer Berührung mit anderen
Menschen ganz unmöglich auf jeden ihrer Affecte und Handlungen
mit einer ursprünglichen sympathetischen Gefühlserregung reagiren
kann; dieses geschieht vielmehr nur bei neuen, ungewöhnlichen
und seltenen Ereignissen, weshalb auch die sympathetische Erregungs¬
fähigkeit eines Kindes größer ist, als die eines Erwachsenen; je
öfter sich dieselben Fälle wiederholen, um so mehr verschwindet
der emotionale Charakter des Urtheils, um so automatischer wird
dieses ausgelöst, um so stärker tritt jene Entlastung des sensiblen
Nervenapparats ein. Durch diese Thatsache verliert indessen der
Smith’sche Grundsatz noch durchaus nicht seine Wahrheit. Der
Psychologe kann, ebenso wie der Physiker und Physiologe, seine
grundlegenden Behauptungen nur an die besonders reinen und
charakteristischen Naturerscheinungen anknüpfen, obwohl dieselben
nicht immer die Regel, sondern oft die Ausnahme zu bilden pflegen.
2.
Nachdem wir in dem ersten Theil das Urtheil über Schick¬
lichkeit oder Unschicklichkeit als das von dem unparteiischen Zu¬
schauer zu bestimmende angemessene oder unangemessene Verhält-
niss von Affect und erregender Ursache kennen gelernt haben,
treten wir jetzt in jenen verwickelteren psychischen Vorgang ein,
welcher entsteht durch die Berücksichtigung der wohl- oder übel-
thätigen Tendenz der Affecte.
Zwei Affecte sind es, welche hierbei vornehmlich in Betracht
kommen, nämlich Dankbarkeit und Zorn. Die erstere ist der Trieb
zur Vergeltung einer wohlthätigen oder verdienstlichen, der letz¬
tere der Trieb zur Vergeltung einer übelthätigen oder missver-