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Walter Brix. '
Zahlbegriff also nicht ganz in den infiniten um, sondern nur da,
wo es nöthig ist. Das ist aber z. B. bei allen Irrationalitäten der
Fall. In Folge dessen muss denn doch die numerische Algebra von
der allgemeinen, abstracten wohl unterschieden werden, da ihr Zahl¬
begriff, abgesehen von den einfachsten Formen, wesentlich ein in¬
finiter ist. Hier ist das Irrationale im allgemeinen als eine ab¬
zahlbare Mannigfaltigkeit erster Mächtigkeit gegeben, während es
dort transfinit als Summe derselben auftritt.
Spaltet sich so die discontinuirliche Zahlgröße in zwei grundver¬
schiedene Unterbegriffe, je nachdem man ihre Erzeugung aus Ele¬
menten oder das Resultat derselben in’s Auge fasst, so tritt derselbe
Gegensatz bei der continuirlichen der (wenigstens wahrscheinlichen)
quantitativen Zahldetermination der Mannigfaltigkeit zweiter Mäch¬
tigkeit in noch viel höherem Maße auf. Wieder ist hier der finite
Begriff der ursprüngliche, der infinite nur eine Hülfsform des
messenden Denkens. Die Behandlung der finiten stetigen Größe
aber ist die Aufgabe der reinen Geometrie oder vielmehr ihrer, von
Grassmann ausgebildeten, umfassenden Oberdisciplin, der Aus¬
dehnungslehre. Es ist das große, methodologisch unschätzbare Ver¬
dienst dieses Mannes, gezeigt zu haben, dass sich solche »extensiven«
Größen auch als Zahlen betrachten lassen, d. h. mit großem Vor¬
theil Verknüpfungen zu unterwerfen sind, welche, in dem vor¬
liegenden Gebiet natürlich von actueller Bedeutung, ihren formalen
Eigenschaften nach als Addition und Multiplication erscheinen *).
Zwar hatten schon vor ihm Möbius1 2), Bellavitis3) und andere
ähnliche Gedanken in’s Auge gefasst und theilweise zur Ausführung
gebracht, aber sie reichten lange nicht heran an die durchgreifende
Ausbildung derselben bei Grassmann, dessen außerordentliche
Bedeutung für unsern Zweck darin besteht, dass er ursprünglich
methodisch ganz verschieden behandelte Begriffe dem einen um-
1) Grassmann hat bekanntlich einen großen Theil seines Lebens hindurch
an der Durchführung dieser Idee gearbeitet. Wir müssten darum auch hier alle
seine Schriften citiren; vgl. deshalb Anmerkung 1, S. 286.
2) In dem bekannten vielcitirten »Barycentrischen Calcul«, Leipzig 1827;
in den gesammelten Werken von Möbius abgedruckt in Band I, Leipzig 1883.
3) In mehreren Einzelabhandlungen, namentlich: Saggio di applicazioni di
un nuovo metodo di Geometria analitica [Calcolo delle equipollenze], Annali delle
Scienze del Regno Lombardo-Yeneto, Padova e Venezia V, 1835, p. 244—259, und
Metodo delle Equipollenze, ebenda VII, 1887, p. 243—261, und VIII, 1838,
p. 17—37, p. 85—121. Außerdem ist er noch mehrfach gelegentlich darauf zu¬
rückgekommen.