Volltext: Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen, Schluss (6)

Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen. 307 
das die Functionentheorie und messende Arithmetik sich geschaffen 
haben, um die Irrationalitäten überhaupt in irgend einer Form ihren 
Betrachtungsweisen unterwerfen zu können*). Der infinite Irrationa- 
nalitätsbegriff ersetzt nämlich die Ausmessung, die er in Wirklichkeit 
nicht erreichen kann, durch eine Reihe von unendlich vielen Mes¬ 
sungen, deren Folge nach einem gewissen Gesetz geregelt ist. Das 
Object der Messung, die irrationale Größe selbst erscheint also hier 
als die Grenze eines unendlichen Processes. Eben deswegen ist 
aber die verlangte Operation eine ideale, die Grenze niemals zu 
erreichen. 
Dieser Begriff des Irrationalen ist also in gewisser Weise un¬ 
bestimmt, fließend und nie zu vollenden. Andrerseits steht es aber 
der Einbildungskraft frei, den Näherungsprocess, dessen Abschluss 
nicht vorstellbar ist, beendet zu denken. Das Irrationale erscheint 
dann nicht mehr als die Näherung selbst, sondern als die Grenze, 
nicht als eine unendliche Reihe, sondern als ihre Summe, nicht als 
eine niemals zu erreichende, sondern als eine festgegebene Größe. 
Diese Form des Irrationalitätshegriffes ist die transfinite. Sie ist in 
dem »Zeichen« Heine’s und in der »Charakteristik« Christoffel’s 
dargestellt. Sie deckt sich auch im wesentlichen mit den ver¬ 
dinglichten formalen Irrationalitäten der discreten Zahlgröße, nur 
dass sie allgemeiner ist und auch die transcendenten mit umfasst. 
In diesem Sinne erscheint analog wie hei Dedekind irgend ein 
Abschnitt des zur stetigen Reihe ergänzten Zahlgebietes als Irra¬ 
tionalität, ob er sich gleich im speciellen Falle auf rationale Größen 
reduciren kann. Und dies ist, wenn man noch die Fähigkeit, po¬ 
sitiv und negativ zu sein, hinzufügt, analog derjenigen Definition, 
welche Newton und Duhamel gegeben haben: Zahl ist das Yer- 
hältniss einer Größe zu der ihr entsprechenden Einheit1 2). 
Hier, wie in vielen anderen Betrachtungen stellt sich das Irra- 
1) Wir wenden hier die bisher nur für unendlich große oder unendlich 
kleine Verhältnisse gebrauchten Wörter infinit und transfinit auch für den end¬ 
lichen Maßstab an, weil wir offenbar hier dieselben Beziehungen haben, und an¬ 
dere bequeme Bezeichnungen nicht existiren. Da jedoch eine endliche Größe nicht 
blos als Grenze eines Näherungsprocesses, sondern auch von vorn herein als ge 
geben aufgefasst werden kann, werden wir für diesen Fall die Benennungen fin 
und transfinit promiscue gebrauchen. 
2) Vgl. oben Kapitel III, 2.
	        
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