Volltext: Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen, Fortsetzung (6)

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Walter Brix. 
Indem man sich aber daran gewöhnte, jede Zahlform zugleich 
anschaulich als Größe zu denken, verschwanden allmählich die be¬ 
fremdenden unvorstellbaren Momente derselben, und man gelangte 
schließlich dazu, selbst von extrem realistischen Anschauungen aus¬ 
gehend, keinen Widerspruch mehr in ihnen zu entdecken. Wo da¬ 
her immer neue Zahlbegriffe gewonnen werden — und dies konnte, 
wie wir bereits zu bemerken Gelegenheit hatten, immer nur durch 
eine Nominaldefinition geschehen — beginnt auch sofort der Rea¬ 
lismus durch unausgesetzte Veranschaulichungsversuche an ihrer 
Unterwerfung zu arbeiten. Die letztere gelang den Indern schon 
vollständig bei den Brüchen und algebraischen Irrationalitäten, das 
Negative hingegen, allein durch den Gegensatz von Vermögen und 
Schulden oder die beiden Richtungen einer Geraden der anschau¬ 
lichen Darstellung zugänglich, erweckte immer noch unbeschwich- 
tigte Bedenken gegen seine Existenzfähigkeit. 
Auf demselben Standpunkt blieben auch die Araber und die von 
ihnen abhängigen christlichen Mathematiker; und erst nach der Zeit 
Descartes’, der ja Algebra und Geometrie in eine einzige Größen¬ 
lehre zusammenfasste, hatte man sich an den fragwürdigen Begriff 
so gewöhnt, dass man schließlich in der Veranschaulichung auf der 
Geraden nur den natürlichen Ausdruck des Negativen sah. 
Ganz denselben Weg mussten später die imaginären und com- 
plexen Zahlen zurücklegen. In die Algebra eingeführt von Car¬ 
dan, mehr durch eine nominalistische Spielerei, über deren Werth 
er sich selbst nicht recht klar war, als auf Grund wissenschaftlicher 
Motive, erkenntnisstheoretisch fortwährend angefochten, in der Ana¬ 
lysis jedoch mit Vortheil und großem Nutzen verwendet, führten 
sie, schon in der Benennung räthselhaft, als »unmögliche Größen« 
ein eigenartiges Zwitterdasein, aus welchem sie erst durch die geo¬ 
metrische Veranschaulichung und durch die Autorität eines Gauß 
befreit wurden. 
Die praktische Bedeutung dieser geometrischen Darstellung war 
also eine außerordentliche, da sie die definitive Aufnahme der bis¬ 
her nur sehr misstrauisch geduldeten neuen Begriffe in den Kreis 
der arithmetischen Grundformen erst sicherstellte ; die logische aber 
ist eine weit geringere. Denn die Gleichstellung reeller und ima¬ 
ginärer Zahlen auf diesem Wege war doch immer eine gewaltsame.
	        
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