Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen. 111
aufgeprägt hat, wäre aber an sich unerklärlich, hätte sich eben
nicht in den klaren Formalbegriff der Zahl wieder der Begriff der
Größe eingedrängt und auf die Beseitigung solcher Zahlformen ge¬
drungen, die nicht mit ihm über einstimm ten. Da sich nun in sehr
vielen Fällen eine Größendeutung für negative Lösungen nicht
finden ließ, so wurden diese einfach verworfen und zwar häufig
genug auch zugleich als Wurzeln der betreffenden Gleichung. Eine
klare Sonderung der Begriffe hätte sie aber, wie es in anderen Fällen
vorkam, als Wurzeln der algebraischen Gleichung bestehen lassen
und nur hervorheben müssen, dass für das gerade vorliegende con¬
crete Problem, dessen Lösung auf die betreffende Gleichung hin¬
auskam, eine Deutung nicht zu gewinnen war. Denn die Gleichung
als solche fällt in die allein den formalen Rechenoperationen un¬
terworfene Algebra, in welcher negative Zahlen ebenso wohl defi-
nirt sind wie positive. Jede nicht rein algebraische Aufgabe da¬
gegen operirt in der Regel mit Größenverhältnissen, welche nur
äußerlich auf Zahlbeziehungen reducirt werden können, darf also
auch nur solche Lösungen in Betracht ziehen, die einer Deutung
in den fraglichen Größenverhältnissen fähig sind.
Sieht man aber von der sehr heiklen Auffassung des Nega¬
tiven ab, so muss man bekennen, dass es der indischen Mathematik
doch verhältnissmäßig leicht gelungen war, ihren ursprünglich rein
formalen Zahlen anschauliche und in diesem Sinn reale Deutungen
zu geben. Dass indessen diese Beziehungen selbst keineswegs real,
sondern lediglich formal und künstlich waren, — denn jene Be¬
griffe waren ja nicht aus ihren Veranschaulichungen abstrahirt,
sondern erst nachträglich diesen untergeschoben — das übersah man
vollständig; und froh, überhaupt eine reale Deutung gefunden zu
haben, welche das erkenntnisstheoretische Gewissen nicht mehr be¬
lästigte, glaubte man jene tiefe begriffliche Kluft zwischen Nomi¬
naldefinition und anschaulicher Größe durch einen neuen, real aus¬
sehenden, in Wirklichkeit aber doch nur formal bestimmten Begriff
überbrückt zu haben. Der Begriff, welcher dazu ausersehen war,
diesen logischen Betrug zu verdecken, und unter dessen Form sich
der sonst so unthätige Realismus den nominalistischen Zahlbegriff
dienstbar machte, ist die Zahlgröße, deren Name schon die will¬
kürliche Vereinigung zweier heterogener Elemente bezeichnet.