Volltext: Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen, Fortsetzung (6)

Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen. 111 
aufgeprägt hat, wäre aber an sich unerklärlich, hätte sich eben 
nicht in den klaren Formalbegriff der Zahl wieder der Begriff der 
Größe eingedrängt und auf die Beseitigung solcher Zahlformen ge¬ 
drungen, die nicht mit ihm über einstimm ten. Da sich nun in sehr 
vielen Fällen eine Größendeutung für negative Lösungen nicht 
finden ließ, so wurden diese einfach verworfen und zwar häufig 
genug auch zugleich als Wurzeln der betreffenden Gleichung. Eine 
klare Sonderung der Begriffe hätte sie aber, wie es in anderen Fällen 
vorkam, als Wurzeln der algebraischen Gleichung bestehen lassen 
und nur hervorheben müssen, dass für das gerade vorliegende con¬ 
crete Problem, dessen Lösung auf die betreffende Gleichung hin¬ 
auskam, eine Deutung nicht zu gewinnen war. Denn die Gleichung 
als solche fällt in die allein den formalen Rechenoperationen un¬ 
terworfene Algebra, in welcher negative Zahlen ebenso wohl defi- 
nirt sind wie positive. Jede nicht rein algebraische Aufgabe da¬ 
gegen operirt in der Regel mit Größenverhältnissen, welche nur 
äußerlich auf Zahlbeziehungen reducirt werden können, darf also 
auch nur solche Lösungen in Betracht ziehen, die einer Deutung 
in den fraglichen Größenverhältnissen fähig sind. 
Sieht man aber von der sehr heiklen Auffassung des Nega¬ 
tiven ab, so muss man bekennen, dass es der indischen Mathematik 
doch verhältnissmäßig leicht gelungen war, ihren ursprünglich rein 
formalen Zahlen anschauliche und in diesem Sinn reale Deutungen 
zu geben. Dass indessen diese Beziehungen selbst keineswegs real, 
sondern lediglich formal und künstlich waren, — denn jene Be¬ 
griffe waren ja nicht aus ihren Veranschaulichungen abstrahirt, 
sondern erst nachträglich diesen untergeschoben — das übersah man 
vollständig; und froh, überhaupt eine reale Deutung gefunden zu 
haben, welche das erkenntnisstheoretische Gewissen nicht mehr be¬ 
lästigte, glaubte man jene tiefe begriffliche Kluft zwischen Nomi¬ 
naldefinition und anschaulicher Größe durch einen neuen, real aus¬ 
sehenden, in Wirklichkeit aber doch nur formal bestimmten Begriff 
überbrückt zu haben. Der Begriff, welcher dazu ausersehen war, 
diesen logischen Betrug zu verdecken, und unter dessen Form sich 
der sonst so unthätige Realismus den nominalistischen Zahlbegriff 
dienstbar machte, ist die Zahlgröße, deren Name schon die will¬ 
kürliche Vereinigung zweier heterogener Elemente bezeichnet.
	        
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